Liebscher, Frank

Richtig spielen – von Ende an

Retrosequenzielles Üben im Anfängerunterricht

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 2/2013 , Seite 26

Retrosequenzielles Üben (RSÜ) ist die wissenschaftliche – und leider etwas sperrige – Bezeichnung für eine spezielle Form des musikalischen Übens, bei der das Ende einer musikalischen Passage zuerst gefestigt und nachfolgend Richtung Anfang erweitert wird. Die Abkürzung “RSÜ” kann deshalb auch für das umgangssprachlich verbreitetere “RückwärtS Üben” verwendet werden.

Leidenschaftliches Musizieren erfordert eine Vielzahl von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die im oftmals lebenslangen Prozess des musikalischen Lernens erworben und erhalten werden müssen. Eine wichtige Aufgabe des Instrumentalunterrichts besteht demzufolge in der Vermittlung eines praktikablen Repertoires an Strategien und Methoden, mit denen InstrumentalistInnen ihren Lern- und Übe­prozess zunehmend selbstständig und effektiv gestalten können.
Der Zweckmäßigkeit des RSÜ wollen wir anhand zweier ausgewählter Problemfelder nachgehen:
1. In aller Regel wird beim Üben im langsamen Tempo das Stück vorne begonnen, bei auftretenden Schwierigkeiten wird abgebrochen und zum Anfang zurückgekehrt (anterogrades Üben). Nach einigen missglückten Versuchen weicht die vage Hoffnung auf ­Gelingen zunehmend einer Frustration, die nicht selten das Scheitern der nächsten Durchläufe geradezu provoziert. Nach spätestens fünf bis zehn Anläufen dieser Art ist der Fehler dann vorerst bedeutungsvoll als solcher verfestigt.
2. Naturgegeben lassen Kondition und Konzentration im Verlauf des Übens nach. Entfernt vom Anfang liegende Problemstellen werden daher beim üblichen Üben von vorne nach hinten entweder nur mit verminderter Aufmerksamkeit oder im ungünstigsten Fall gar nicht erreicht.
Um diesen Problemen zu begegnen, wird beim RSÜ mit einem überschaubaren und praktisch zu bewältigenden Abschnitt am Ende einer zu übenden Stelle begonnen. Dies können die beiden Schlusstöne sein oder aber auch andere, sinngebundene musikalische Einheiten wie z. B. das letzte Intervall, das letzte Motiv, die letzte Zählzeit oder der letzte Takt. Hat sich ein erster Grad der Stabilisierung eingestellt, wird der soeben geübten Stelle die nächst Vorstehende vorangestellt. Auf diese Weise wird der Umfang der Passage „stückweise“ (sequenziell) vom Ende beginnend (retro-) bis zum Anfang der zu übenden Stelle erweitert.
RSÜ beruht auf einer Reihe von Wirkungsprinzipien (Selektion, Reduktion, temporäre Isolation, Vereinfachung, Steuerung der Aufmerksamkeit, Repetition), die auch in anderen Übemethoden zur Anwendung kommen und sich in verschiedenen Lerneffekten niederschlagen:
– Bewältigung der Komplexität,
– Strukturierung der Lerninhalte,
– Schulung der Wahrnehmung,
– Erhöhung der Behaltensstabilität,
– Steigerung der Vorstellungskompetenz,
– Zunahme der spieltechnischen Sicherheit,
– positive Selbstverstärkung der Übemotivation sowie
– Erhöhung der Auftrittssicherheit.

Ein bBeispiel aus dem Anfängerunterricht

Anhand des folgenden Beispiels aus dem Anfängerbereich im Fach Saxofon soll erläutert werden, wie RSÜ im Instrumentalunterricht dazu beitragen kann, diese Lerneffekte zu erzielen. Nicole (8 Jahre alt) nimmt seit sechs Monaten Saxofonunterricht und ist auf ihrem Instrument bereits mit den Griffen für die Töne d’ bis cis” vertraut.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2013.