Eicker, Gerd

Risiken und Nebenwirkungen

Gedanken eines Musikschulleiters im Ruhestand zur Situation kommunaler Musikschulen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2014 , Seite 44

Vor einigen Wochen fragte mich ein junger Kollege, der seit sechs Jahren eine größere Musikschule leitet, wie ich mir die Musikschule im Jahr 2030 vorstelle. Meine Reaktion war: Verblüffung! Denn diese Frage, wie meine Musikschule in 16 Jahren aussehen würde, welche Position sie im gesamten Bildungskontext einnehmen würde, habe ich mir nie gestellt. Warum eigentlich nicht?

1984 blickte ich auf sechs Jahre Musikschulleitung zurück bzw. blickte überhaupt nicht zurück. Aufbau, Erweiterung war die Devise. Traf man Kollegen, lautete die Frage: „Wie viele hauptamtliche Lehrkräfte hast du jetzt schon?“ (Heute fragt man eher: „Wie viele hast du noch?“) Musikschulen wurden von der Politik, insbesondere von der Bildungspolitik kaum wahrgenommen. Wir kämpften um Anerkennung unserer Arbeit, um öffent­liche Mittel, um Räume, um qualifizierte Lehrkräfte (auch mit den Hochschulen um adäquate Studiengänge), um Aufnahmekapazität, da die Nachfrage größer war als unsere Möglichkeiten. Wir definierten und verfolgten Bildungsideale – aber nicht auf 16 Jahre hin. In den bildungspolitischen Programmen kam Musikschule kaum bis gar nicht vor.
Es war die Zeit der „Heroes“, der Gründungsväter, die zum Teil wie gepanzerte Fahrzeuge auf Eroberung gingen, keine Auseinandersetzung scheuten und manchmal auch mit Tricks die Arbeit vorantrieben, sei es auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene. Sie scheuten kein Risiko, denn sie hatten nichts zu verlieren. Die beabsichtigte Nebenwirkung ihrer Arbeit war die Verankerung der öffentlichen Musikschule als anerkannte kommunale Bildungseinrichtung mit kontrollierter Qualität.

Nur das Beste für das Kind?

Wie begegneten die Eltern dieser sich entfaltenden Einrichtung? Über Erziehung wurde viel nachgedacht, es wurden Erziehungs­modelle erörtert, Eltern waren zum Teil ver­unsichert, z. B. durch die Bewegung der anti­autoritären Erziehung. Nachwirkungen der späten Sechziger waren spürbar, „Summerhill“1 von Alexander S. Neill, dem Vater dieses falsch verstandenen Konzepts, wurde noch diskutiert. Die Finanzsituation vieler Eltern erlaubte jedoch nicht, das Füllhorn der Bildungsangebote über die Kinder auszuschütten.
Das hat sich wie vieles andere auch in vielen Familien geändert. Geblieben ist allerdings die Verunsicherung. Da Geschwisterkinder seltener geworden sind, lautet vielfach die Devise: „Für mein Kind das Beste – und zwar von allem.“ Und: „Mein Kind ist mein Partner!“ – ein Relikt aus der antiautoritären Phase. Doch wer übernimmt die Verantwortung? Da kommt in den vergangenen Jahren die Bildungspolitik zu Hilfe: Die Ganztagsschule und die Kindertagesstätte ermöglichen eine Rundumversorgung, dort findet nun der Erziehungsprozess statt, für die Eltern bleibt der fröhliche Freizeitbereich, in dem Medien hilfreich und entlastend zur Seite stehen. Das klingt sehr böse – und ist auch so gemeint!
Einen interessanten Aspekt zeigt der Kinderarzt Herbert Renz-Polster auf.2 Er stellt fest, dass Kindheit immer mehr durchorganisiert wird, aber Kinder gar nicht die ganze Zeit von oben bis unten betreut sein wollen. Wohl nie zuvor in der deutschen Geschichte sei so viel Hirnschmalz in die Kindererziehung gesteckt worden und alle würden wohlmeinend von kindlicher Bildung reden, aber seltsamerweise würden gerade die besonders laut über Bildung und Erziehung reden, die mit Kindern gar nichts zu tun haben. Renz-Polster sieht handfeste Lobby-Interessen, die nur bedingt die der Kinder sind: 20000 Kindergärten in Deutschland sind als „Häuser der kleinen Forscher“ zertifiziert – zurück geht das Ganze auf die Initiative der internationalen Unternehmensberatung Mc Kinsey und dient ursprünglich der Sicherung des Wirtschaftsstandorts. Frühe Bildung geschieht schon im vorauseilenden Gehorsam auf einen späteren Arbeitgeber, den man noch nicht einmal kennt. Nicht das Kind steht im Mittelpunkt, sondern seine spätere Eignung für den Arbeitsmarkt.3

1 Summerhill ist eine demokratische Schule in Leiston (Suffolk, England) und gilt als eine der ältesten demokratischen Schulen der Welt, gegründet 1921 von Ale­xander S. Neill. 1965 erschien die deutsche Erstausgabe seines 1959 in den USA veröffentlichten Bestsellers unter dem Titel Erziehung in Summerhill – das revolutionäre Beispiel einer freien Schule. 1969 wurde das Buch im Rowohlt-Verlag erneut herausbracht, diesmal mit einem dem Zeitgeist angepassten Titel: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung – das Beispiel Summerhill.
2 Herbert Renz-Polster: Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt, München 2010.
3 s. Interview in der Waiblinger Kreiszeitung vom 12.11.2013, S. B4.

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