Wilsing, Daniel Friedrich Eduard

Sämtliche Klavierwerke

Sonaten und Einzelstücke, hg. von Guido Johannes Joerg

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Dohr, Köln 2021
erschienen in: üben & musizieren 1/2022 , Seite 60

Diese Notenausgabe ist wie eine Schatzkiste. Beinhaltet sie doch Klaviersonaten, Fugen sowie eine Caprice, Fantasie und Humoreske von einem bisher gänzlich unbekannten Komponisten, der im 19. Jahrhundert gelebt hat, aber ganz im Sinne der Wiener Klassik komponierte. Es bereitet große Freude, die gut 200 Seiten der Gesamtedition sämtlicher Klavierwerke von Eduard Wilsing (1809-1893) durchzuspielen. Alles liegt pianistisch angenehm in der Hand und ist mit einem ausgeprägten Formsinn komponiert. Bei entsprechender Tempowahl wirkt manches galant und verlangt dabei auch durchaus eine virtuose Spielfertigkeit.
Bei den ersten drei jeweils viersätzigen Klaviersonaten Wilsings hört man immer wieder sein großes kompositorisches Vorbild Beethoven durch. Manchmal klingt es, als hätte Beethoven selbst komponiert. Wilsing benutzt die klassische Sonatenhauptsatzform, die Variationsform und die Fugenform mit großer Eleganz, allerdings ohne das Beethoven’sche Ringen mit diesen. Seine vierte Sonate in Fis-Dur zeigt nicht nur in der Tonart, sondern auch in anderen Parametern einige Verwandtschaft mit Beethovens op. 78.
Die elfseitige Caprice in E-Dur fällt durch einen reichhaltigen Gebrauch unterschiedlicher Tonarten auf. Ein kompositorisches Kabinettstück ist die Humoreske in e-Moll in kanonischer Form. Dem Komponisten gelingt hier durch die kanonische Verschränkung der Stimmen (die eine folgt der anderen immer um ein Viertel versetzt) ein farbenreiches Wechselspiel ohne Begleitstimme, ganz im Sinne eines Mendelssohn’schen Scherzos.
Ein Meisterwerk ist die 1842 komponierte viersätzige Fantasie in fis-Moll. Schon der erste Satz mit seinen häufigen Wechseln vom allegro con brio zum adagio molto bietet pianistisch einiges. Im bewegten zweiten Satz und der liedhaften Melodik des dritten klingt etwas von Schubert an, bevor die äußerst facettenreiche Fantasie mit einer kunstvollen Fuge im allegro vivace endet.
Diese Klaviermusik ist nicht nur für Laien attraktiv, sondern sie könnte auch durchaus auf dem Konzertpodium ihren Platz finden. Schon Robert Schumann schrieb über Wilsings Caprice: „Wir wüssten an der Caprice kaum etwas zu tadeln. In der Form ist sie ausgezeichnet, dass sich kaum etwas hinzutun oder wegnehmen lässt; die Schreibweise ist gesund, gedrungen, durchaus klar.“
Die Gesamtedition des Dohr-Verlags ist ausgezeichnet. Der Notendruck ist übersichtlich und sehr gut lesbar, nur die vielen, zumeist nicht notwendigen Vorzeichenwiederholungen stören etwas. Ein instruktives Geleitwort des erfahrenen Pianisten Rainer M. Klaas mit biografischen Angaben zum Komponisten, ein ausführlicher kritischer Bericht und ein Nachwort von Guido Johannes Joerg mit zahlreichen historischen Quellen zur Rezeption der Klaviermusik Wilsings durch Zeitgenossen runden diese wertvolle Edition ab. Sämtliche Werke sind zudem als Einzelausgaben verlegt.
Christoph J. Keller