Simon, Jürgen

Sex sells

Erotik im ­Musikgeschäft

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2016 , Seite 23

Vor einiger Zeit war ich zum “Abend der Talente” an einer Berliner Grund­schule eingeladen. Der Abend wurde für mich ein zutiefst denkwürdiges Erlebnis. Niemand spielte ein Instru­ment. Niemand trug ein Gedicht vor. Niemand führte eine kleine Theater­szene auf. Nichts von alldem, was ich von den Schulveranstaltungen aus meiner eigenen Schulzeit kannte, wurde hier vorgeführt.

Stattdessen traten hintereinander weg Mädchen mit zumeist sehr kurzen Röckchen, tief ausgeschnittenen Dekolletés und sehr hohen Schuhen auf. Dann wurden Playbacks aktueller Popsongs vom Band eingespielt, zu denen die Mädchen sangen. Und selbstverständlich tanzten die Mädchen auf der Bühne: In einer nicht selten bizarren Parodie versuchten diese Kinder im Alter zwischen acht und elf Jahren, die lasziven Tanzbewegungen von Madonna oder Britney Spears zu imitieren. Nicht weniger denkwürdig als die optische Erscheinung war in den meisten Fällen die musikalische Darbietung: Oft war die Melodie nur schwer zu erkennen, und selbst der Rhythmus war trotz der laut hämmernden Beats vom Band in vielen Fällen eher zufällig. Von Feinheiten wie einer gestützten Stimme oder geplanten Atempausen schien ebenfalls keines der Kinder jemals gehört zu haben.
Das erstaunlichste an diesem Abend aber war, dass sich niemand an alldem zu stören schien. Das Publikum aus Schulkameraden, Eltern, Geschwistern und Lehrern applaudierte und tobte nach jeder Darbietung aufs Heftigste. Natürlich kann niemand leugnen, dass heutzutage gerade im Bereich der Pop-, aber auch der Schlagermusik die äußere Erscheinung eine wichtige Rolle spielt. Und wer sich einmal die Mühe macht, aktuelle Videoclips speziell auf ihren erotischen oder eher sexuellen Gehalt zu überprüfen, wird feststellen, dass es offensichtlich zum Standard geworden ist, sowohl bei der Aufmachung als auch bei den Bewegungen ganz offen mit sexuellen Reizen zu arbeiten. Dabei ist die sexuelle Symbolik inzwischen oft so weit in den Vordergrund gerückt, dass sie die Wahrnehmung der eigentlichen künstlerischen Qualitäten zum Teil ausblendet. Denn unabhängig davon, ob man die jeweilige Musikrichtung goutiert oder nicht: Die meisten Künstle­rinnen und Künstler auch im Popbereich beherrschen sehr wohl ihr Handwerk.

 

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2016.