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Doerne, Andreas / Ulrich Mahlert

Sich selbst unterrichten?

Autodidaktisches Lernen aus musizierpädagogischer Perspektive

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2022 , Seite 06

Autodidaktisches Lernen ist eine ­vielfach unterschätzte Art des Lernens. Der Beitrag will klären, was sich darunter verstehen lässt, und Anregungen geben, es pädagogisch zu kultivieren.

Über autodidaktisches Lernen für Lehrende zu schreiben, hat etwas Paradoxes. Lehrende, die andere Menschen unterrichten, sind ja bei autodidaktischem Lernen, verstanden als Lernen ohne Lehrperson, nicht aktiv im Spiel. Wozu also sollen sich Lehrende mit autodidaktischem Lernen beschäftigen? Noch aus einem weiteren Grund scheint Autodidaktik zunächst für Lehrende im Instrumental- und Vokalunterricht kein Thema zu sein. Gerade der traditionelle Musizierunterricht, ob Einzel- oder Gruppenunterricht, findet größtenteils lehrergelenkt statt. Abgesehen vom weiten Feld der Popmusik, wo auto­didaktisches Lernen verbreitet ist, dürfte rein autodidaktisches Erlernen eines Instruments die Ausnahme bilden.
Über autodidaktisches Lernen für Lernende zu schreiben, führt ebenfalls zu einem Paradox: Autodidaktisches Lernen erfolgt dem Alltagsverständnis gemäß häufig lehrerlos, also wäre ein durch Empfehlungen an Lernende angeleitetes eigenständiges Lernen kein autodidaktisches Lernen mehr. Inhaltlich würde es eventuell lehrerlos praktiziert, methodisch aber die gelesenen Ausführungen berücksichtigen und damit einer instruktiven Vorgabe folgen.

Sinn und Absichten

Warum also soll es Sinn ergeben, im Rahmen von Musizierpädagogik über autodidaktisches Lernen nachzudenken? Warum könnte Autodidaktik auch für Lehrende ein wichtiges Thema sein?
Ein erster Grund liegt in einer pädagogischen Leitidee: Wie jeder den Prinzipien von Aufklärung folgende Unterricht sollte auch Musizierunterricht auf Mündigkeit und Selbstständigkeit der Unterrichteten hin angelegt sein. Gerhard Mantel brachte den Begriff ­Autodidaktik in das Postulat ein: „Ein guter Lehrer macht seinen Schüler zum Autodidakten.“1 Ein zweiter Grund liegt darin, dass auch lehrergesteuertes Lernen stets autodidaktische Anteile besitzt. Aus konstruktivistischer Sicht ist alles Lernen Selbst-Lernen: Lehrkräfte können das Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler nicht „machen“, sondern nur Umstände schaffen, unter denen diese es selbst vollziehen. Auch eine noch so genau verbal oder modellhaft gegebene Spielanweisung muss vom Schüler oder der Schülerin in eine eigene, den persönlichen mentalen und körperlichen Voraussetzungen entsprechende Vorstellung transformiert und kann nur als solche angeeignet werden.
Auch für das Lernen des Übens besitzt der autodidaktische Faktor eine hohe Relevanz: Selbst didaktisch-methodisch genauestens ausdifferenzierte Kataloge mit Anweisungen und Hinweisen zum Üben2 können nicht die Bildung von Übekompetenzen durch eigene Erfahrungen und deren metakognitive Re­flexion ersetzen.
„Üben wird durch Üben ­erlernt“,3 formulierte Eckart Altenmüller ­bündig – und meinte damit eben die für ein fundiertes Üben unverzichtbare Selbsterfahrung und -steuerung, die autodidaktischer Art ist.
Bei genauerer Betrachtung des Begriffs Autodidaktik tun sich jedoch einige grundlegende Fragen auf: Folgt man der konstruktivistischen Auffassung von Lernen als einem autopoietischen Prozess (also einem Vorgang, der sich selbst hervorbringt) und verwendet man für die persönliche „konstruktive“ Leistung des Lernens den Begriff autodidaktisch, dann gibt es, so scheint uns, letztlich kein nicht-autodidaktisches Lernen. Damit allerdings wäre die Begriffsbildung „autodidaktisches Lernen“ eine Verdopplung durch ein überflüssiges Beiwort. Der Begriff „autodidaktisch“ hätte dann nicht mehr die Funktion, von einem anders beschaffenen Lernen abzugrenzen.
Noch eine weitere Unschärfe ist mit dem Begriff „autodidaktisch“ verbunden. Ebensowenig wie es ein rein lehrergesteuertes Lernen gibt, lässt sich ein rein autodidaktisches Lernen vorstellen. Wenn jemand versucht, ein Instrument autodidaktisch zu lernen, wird er oder sie bestimmt schon erlebt haben, wie Menschen auf diesem Instrument musizieren. Vermutlich hat er oder sie dadurch Vorbilder gebildet. Möglicherweise erwächst der Impuls, autodidaktisch mit dem Lernen des Instruments loszulegen, gerade aus der starken Wirkung eines solchen Vorbilds. Im autodidaktischen Lernen ist also das Vorbild als Lehrerinstanz wirksam.
Selbst wenn kein persönliches Vorbild vorhanden ist und etwa der Impuls zum autodidaktischen Lernen eines Instruments bzw. eines Musikstücks aus einer Aufnahme mit diesem Instrument bzw. aus einer gehörten Wiedergabe eines Stücks entsteht, dann hat doch das nachgeahmte musikalische Substrat Vorbildcharakter und fungiert somit als fremdsteuerndes Objekt.
Wenn es also kein rein autodidaktisches und kein rein lehrergesteuertes Lernen gibt, dann bezeichnen die beiden Begriffe eine ideal­typische Polarität. Interessant sind dann weniger die nicht vorhandenen Extreme, sondern die Mischverhältnisse beider Formen. Diese realen Konstellationen sind für Lehrende, die die Selbstständigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler fördern wollen, besonders wichtig. Um sie zu bezeichnen, müssen wir zum einen genauer herausarbeiten, welche Merkmale autodidaktisches Lernen besitzt bzw. besitzen kann, und zum anderen den Begriff der Autodidaktik so weit präzisieren, dass wir ihn von verwandten Begriffen und Phänomenen besser abgrenzen können.

Potenziale und ­mögliche Probleme

Im Alltagsverständnis wird der Ausdruck „autodidaktisch lernen“ oft wenig reflektiert verwendet. Daher möchten wir uns in einem zweiten Schritt dem Thema mittels einer tabellarischen Übersicht annähern, in der wir die Potenziale autodidaktischen Lernens und mögliche Probleme gegenüberstellen.

1 Mantel, Gerhard: „Kunst und Pädagogik – ein Widerspruch? Auf der Suche nach künstlerischen Kriterien“, in: Grimmer, Frauke/Lessing, Wolfgang (Hg.): Künstler als Pädagogen. Grundlagen und Bedingungen einer verantwortungsvollen Instrumentaldidaktik, Mainz 2008, S. 28.
2 beispielhaft Ernst, Anselm: „Didaktik des Übens“, in: Mahlert, Ulrich (Hg.): Handbuch Üben. Grundlagen – Konzepte – Methoden, Wiesbaden 2006, S. 98-116.
3 Altenmüller, Eckart: „Hirnphysiologische Grundlagen des Übens“, in: Mahlert, Handbuch Üben, a. a. O., S. 63.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2022.