Wohlwender, Ulrike / Silvia Molan

Sirius 6.0 – ein Flügel, der Hände wachsen lässt

Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart: Klaviaturen mit schmaleren Tasten eröffnen weitreichende Perspektiven

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 6/2023 , Online-Beitrag 17

Im Januar 2020 hat die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart „Sirius 6.0“ in einem Überaum willkommen geheißen. Seither können Studierende, Lehrende und Gäste erleben, wie ihre Hände um eine halbe Taste pro Oktave „wachsen“.

Selbst PianistInnen, die an Normklaviaturen Dezimen erreichen, freuen sich über das „freiere Spiel der anderen Finger während Oktaven“ oder darüber, dass sie „wegen der verringerten Handspannung differenzierter spielen“ und „klanglich feiner schattieren“ können. Auch Lehrende schätzen an Sirius 6.0, dass sie sich „ganz auf die Musik, auf Klang und Ausdruck fokussieren“ können und „that my sound had changed because there was no tension in my hand anymore“. Fast alle sind „überrascht, wie schnell man sich anpasst“, einige haben sich „schockverliebt“. Und was wie Zauberei klingt: Viele können die größere Leichtigkeit sogar „ein Stück weit auf die Normklaviatur übertragen“.[1]
Ist Klaviaturbau zukünftig also anders denkbar, vielfältiger? Oder soll die DIN-Norm von 1880 weiterhin das Maß aller Dinge sein? Langjährig erprobte Varianten könnten den Weg weisen. Daniel Barenboim z. B. spielt seit mindestens 2008 eine Klaviatur mit ca. 7 mm schmaleren Oktaven[2], was Hammerflügeln aus der Zeit von 1785-1825 entspricht.[3] An etlichen Universitäten in den USA stehen in Überäumen und auf Podien Steinbuhler-Klaviaturen in DS 6.0 und DS 5.5-Mensur bereit – 12 mm bzw. 24 mm schmaler pro Oktave.[4]
Die Stuttgarter Zukunftsinitiative Sirius 6.0 widmet sich seit 2020 der Verbreitung und Weiterentwicklung von Klaviaturen mit verkleinerter Mensur und geht damit unter den europäischen Hochschulen voran.[5] Nach den wegweisenden Erfahrungen mit dem Prototyp Sirius 6.0 – einem Yamaha GB1 Stutzflügel mit optimierter 6.0 Klaviatur von Laukhuff – folgt zum Jahresende 2023 mit einer Sirius 6.0-Wechselklaviatur für einen Steinway D-Konzertflügel der Schritt aufs Podium. Rückenwind kommt seit dem Frühjahr 2023 aus Nürnberg. Die dortige Musikhochschule hat einen Steinway M mit einer Sirius 6.0-Klaviatur ausgestattet.[6]
Studien aus den USA und aus Australien kommen zu dem Schluss, dass die Normklaviatur für 87 % der Frauen und für 24 % der Männer zu groß ist, wenn man die Breite des Repertoires bedenkt.[7] Spannweiten 1-5[8] von Frauen sind durchschnittlich 2,1 cm kleiner als die von Männern[9]; dies entspricht fast einer Taste. Bei internationalen Klavierwettbewerben gewinnen Männer viermal häufiger erste Preise als Frauen (außer Bach-/Mozart-Wettbewerbe).[10] Zwischen geringen Spannweiten und spielbedingten Überlastungssyndromen scheinen kausale Zusammenhänge zu bestehen.[11]
Wenn Chancengleichheit „ein wesentliches Qualitätsmerkmal einer zukunftsfähigen Hochschule“[12] ist, dann gilt es, die Fantasie und die Innovationskraft des Klavierbaus für erschwingliche Serienfertigung von Klaviaturen mit verkleinerter Mensur zu beflügeln. Mag sein, dass es 20 Jahre dauert – aber wie wäre es, wenn auf Podien und in Unterrichtsräumen Wechselklaviaturen zur Auswahl stünden und zuhause die individuell passende Klaviaturmensur? An der HMDK Stuttgart werden Studierende ab 2024 bei Konzerten und Prüfungen die Wahl zwischen der 6.5-Norm und der Sirius 6.0-Klaviatur haben. Ein Anfang mit weitreichenden Perspektiven.

[1] Statements von Sirius-PianistInnen u. a. aus der Videoserie „Sharing experiences with Sirius 6.0“, https://www.youtube.com/playlist?list=PLHY6hZ8aCfsioDhj6EPKCLUxv53o_IrXX (Stand: 28.7.2023), dem Flyer zum Symposium der HMDK Stuttgart „Sirius 6.0 im Kontext“ vom 19.11.2022 und aus Boyens, Barbara: „Ein Flügel, der die Hände wachsen lässt“, in: Frankfurter Neue Presse, 10.7.2023, S. 18.
[2] Kimmelman, Michael: „A Whirlwind Named Barenboim”, in: New York Times, 23.11.2008.
[3] Sakai, Naotaka: „Keyboard Span in Old Musical Instruments Concerning Hand Span and Overuse Problems in Pianists“, in: Medical Problems of Performing Artists, 23. Jg., 2008, Heft 4, S. 169-171.
[4] Leone, Carol: „Personal touch”, in: International Piano, 2017, Heft 41, S. 32 f., https://www.paskpiano.org (Stand: 28.7.2023).
[5] https://www.hmdk-stuttgart.de/einrichtungen/sirius-60 (Stand: 28.7.2023); Wohlwender, Ulrike: „Sirius 6.0. Ein Flügel, der Hände ‚wachsen‘ lässt“, in: Spektrum, Stuttgart 2020, Heft 35, S. 70-71; Wohlwender, Ulrike/Molan, Silvia: „Sirius 6.0. Neue (und alte) Dimensionen erschließen“, in: Spektrum, Stuttgart 2021, Heft 38, S. 31; Wohlwender, Ulrike: Einführungsvortrag Sirius 6.0 vom 21.4.2022: https://www.youtube.com/watch?v=UwNV3IsNrS0; Stolzenwald, Miriam: „Pionier-Projekt in Stuttgart: Der Sirius-Flügel könnte die Klavierwelt revolutionieren“, SWR 2, 29.8.2023, 10:05 Uhr, https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/instrumente-mit-anderer-mensur-der-sirius-fluegel-100.html
[6] Hench, Ulrich/Kries, Katja: „Ein Flügel, der Hände wachsen lässt“, in: nmz hochschulmagazin, 72. Jg., 2023, Nr. 6, S. 21; https://www.hfm-nuernberg.de/studium/musik-und-gesundheit/sirius-6 (Stand: 28.7.2023).
[7] Boyle, Rhonda/Boyle, Robin/Booker, Erica: „Pianist Hand Spans: Gender and Ethnic Differences and Implications for Piano Playing“, in: Australasian Piano Pedagogy Conference, Melbourne 2015, S. 57.
[8] Messung von der Daumenspitze bis zur Spitze des kleinen Fingers bei maximaler Handspreizung.
[9] Wagner, Christoph: Hand und Instrument: Musikphysiologische Grundlagen, praktische Konsequenzen, Wiesbaden 2005, S. 306.
[10] Boyle/Boyle/Booker, S. 51.
[11] Wagner, S. 191 ff.; Wohlwender, Ulrike: „Riskante Winkel. Ursachen von Overuse-Syndromen auf der Spur“, in: üben & musizieren, 36. Jg., 2019, Heft 5, S. 14-20.
[12] HMDK Stuttgart (Hg.): Struktur- und Entwicklungsplan 2022-2026, Stuttgart 2021, S. 44.