Sabrowski, Annika
„So vom Blatt, das ist halt schwierig“
Legasthenie im Instrumentalunterricht: Wenn das Lesen und Lernen anders funktioniert
Schülerinnen und Schüler, die sich mit dem Notenlesen schwer tun, kennt wohl jede Lehrkraft. Dass solche Probleme auch Folge einer Legasthenie sein können, ist hingegen kaum bekannt. Legasthenie ist eher ein Begriff, der mit alphabetischer Schrift assoziiert wird, doch ebenso wie andere Lernschwierigkeiten kann eine Lese- und Rechtschreibschwäche das Musizieren auf vielfältige Weise beeinflussen.
Einige InstrumentalistInnen mit Legasthenie können kaum Noten lesen, bei anderen zeigen sich Auswirkungen auf das Auswendiglernen oder die Ausführung von Rhythmen. Wieder andere SchülerInnen bleiben völlig unauffällig. Es ist statistisch nachgewiesen, dass Kinder mit Legasthenie im Durchschnitt länger brauchen, um das Notenlesen zu erlernen, und mehr Fehler machen als normallesende Kinder.1 So kann es passieren, dass Noten im Terzabstand transponiert werden, Rhythmus nicht altersentsprechend verarbeitet werden kann, motorische Schwierigkeiten auftreten und eine Einschränkung des Gedächtnisses verhindert, dass Patterns oder Notenbilder wiedererkannt und abgerufen werden können.2 Außerdem kann das Behalten von Arbeitsaufträgen erschwert sein.3 Als Ursache werden zum Beispiel Automatisierungsdefizite4 oder mangelhafte Verarbeitung bestimmter Sinneswahrnehmungen im Arbeitsgedächtnis angenommen.5 Die gute Nachricht: SchülerInnen mit Legasthenie haben bereits viele Erfahrungen damit gemacht, anders zu lernen, und zum Teil sehr gute Kompensationsstrategien entwickelt, die auch dem Instrumentalunterricht zugute kommen können.6
Nicht nur Kinder und Jugendliche, auch BerufsmusikerInnen können betroffen sein, wie einige mir im Rahmen meiner Bachelor-Arbeit berichteten:7
– „Ich habe ewig für das Notenlernen gebraucht. Ich musste diese immer wieder neu lernen und flüssig lesen konnte ich erst nach dem Studium. […] War sehr schlecht für den Teil der Prüfung Blattspiel. Oder Generalbass spielen. Ich habe dann lieber alle in Frage kommenden Stücke auswendig gelernt.“
– „Als Student war es im Fach Gehörbildung eine Erleichterung, als mein Professor dies [die Legasthenie] akzeptierte und ich meine Scheine durch eine mündliche Prüfung ablegen konnte.“
– „So Sachen, wie wenn man jetzt Aushilfe macht oder Stücke bekommt und die runter spielen muss, das ist im professionellen Bereich für mich gar nicht möglich. Aber wenn ich ein bisschen Zeit hatte […] und konnte das bisschen üben, dann ist alles wunderbar, aber so vom Blatt, das ist halt schwierig.“
Kombination von Teilleistungsschwächen
Legasthenie ist eine „bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist“ und zudem „nicht allein als Folge einer Intelligenzminderung“ aufzufassen ist.8 Wie Legasthenie entsteht, ist umstritten. Diesem Artikel liegt daher eine Modellvorstellung zugrunde.9 Anzunehmen ist, dass die Schwäche im Lesen und Schreiben aus einem Zusammenspiel verschiedener Teilleistungsstörungen entsteht. Diese können zum Beispiel eine visuelle Verarbeitungsstörung sein (Buchstaben „tanzen“ auf dem Papier), eine Raum-Lage-Problematik (b, p, d, q sind schwer zu unterscheiden), eine auditive Problematik (d/t und g/k werden undeutlich gehört) oder Schwächen in anderen Bereichen. Je nachdem, wie sich diese Schwächen kombinieren, entstehen Legasthenie, Dyskalkulie oder weitere Einschränkungen. Sind Wahrnehmungsleistungen betroffen, die im Instrumentalunterricht benötigt werden, kann es auch dort zu Auswirkungen kommen.
1 Birgit Jaarsma/Aloysius Ruijssenaars/Wim Van den Broeck: „Dyslexia and Learning Musical Notation – A Pilot Study“, in: Annals of Dyslexia, 48/1998, S. 146; Nanke Flach/Anneke Timmermans/Hanke Korpershoek: „Effects of the Design of Written Music on the Readability for Children with Dyslexia“, in: International Journal of Music Education, 34(2)/2016, S. 234.
2 z. B. Flach/Timmermans/Korpershoek, S. 236.; Andreas C. Lehmann/Victoria McArthur: „Sight-Reading“, in: Richard Parncutt/Gary McPherson (Hg.): The Science and Psychology of Music Performance. Creative Strategies for Teaching and Learning, Oxford 2002, S. 135.
3 vgl. British Dyslexia Association (Hg.): Music and inclusive teaching: information from B. D. A. Music, ohne Ort und Jahr, S. 7 ff.; online unter https://cdn.bdadyslexia.org.uk/documents/Advice/Music/BDA_Music_information_booklet_REV_jan_2018.pdf?mtime=20190408173756 (Stand: 16.12.2020).
4 z. B. Rod Nicolson/Angela Fawcett: „Dyslexia is more than a phonological disability“, in: Dyslexia, 1/1995, S. 5.
5 Sheila Oglethorpe: Instrumental Music for Dyslexics. A Teaching Handbook, London 1998, S. 87 ff.
6 vgl. ebd., außerdem: Nicolson/Fawcett, S. 5.
7 Die ausführlichen Interviews und Ergebnisse einer Online-Umfrage unter 26 Musizierenden mit Legasthenie sind nachzulesen in meiner Bachelor-Arbeit. Annika Sabrowski: Legasthenie im Instrumentalunterricht, Osnabrück 2019; online unter www.annikas-musikecke.de/musikecke/paedagogikmusikpaedagogik/legasthenie-im-instrumentalunterricht (Stand: 16.12.2020).
8 Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (Hg.): ICD-10-GM Version 2019 German Modification – Systematisches Verzeichnis – Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, Köln 2018, F.81.- und F.81.0.
9 Diese und sehr ähnliche Vorstellungen werden z. B. beschrieben von: Nicolson/Fawcett, S. 1; Oglethorpe, S. xi, S. 3; Sima Anvari/Laurel Trainor/Jennifer Woodside/Betty Levy: „Relations Among Musical Skills, Phonological Processing, and Early Reading Ability in Preschool Children“, in: Journal of Experimental Child Psychology, 83/2002, S. 114.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2021.