Glinka, Michail I.

Sonate d-Moll

für Klavier und Viola / für Klavier und Violine, Urtext, hg. und ergänzt von Igor Andreev, Spielpartituren

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Partitura, Winterthur/Bern 2021
erschienen in: üben & musizieren 4/2021 , Seite 62

Michail Glinka (1804-1857) könnte für sich in Anspruch nehmen, in vielerlei Hinsicht „der erste“ gewesen zu sein: der erste bedeutende russische Komponist und Begründer einer Tradition spezifisch nationalrussischer „klassischer“ Musik, die sich bewusst von den Einflüssen westeuropäischer Vorbilder absetzt. Seine Oper Ein Leben für den Zaren (1836) war die erste in russischer Sprache gesungene Oper, sein stilprägender Einfluss hat ihm den Titel eines „Vaters der russischen Musik“ eingetragen. Und er war wohl der erste Schöpfer einer bedeutenden Bratschensonate, auch wenn diese unvollendet blieb und erst 1932 vom russischen Violavirtuosen Wadim Borisowsky ergänzt und veröffentlicht wurde.
Es blieb bis heute die einzige gedruckte Version, die ausschließliche Fassung, in der uns dieses so originelle, poetische Werk der Frühromantik bisher bekannt war. Allerdings nahm Borisows­ky erhebliche Eingriffe in den Text vor und rückte das Stück damit im Vergleich zu Glinkas Original näher in Richtung spätromantischer Klangwelten.
Der Verlag Partitura legt nun eine Neuausgabe vor, die sich nah an Glinkas Text orientiert. Oder vielmehr an seinen drei leider ­allesamt unvollständigen und in der Notation recht inkonsistenten Autografen (A 1: 1825, A 2: vermutlich später, A 3: vermutlich nach 1850). Den zweiten, unvollendeten Satz Andante (Glinka plante laut seinen Notizen noch einen dritten, den er aber nie realisierte) offeriert diese Neuedition in zwei verschiedenen Fassungen: eine von Herausgeber Igor Andreev vervollständigte Version, die sich am späten Autograf orientiert, sowie zusätzlich eine weitere von Rudolf Leopold komplettierte, basierend auf Glinkas früher, längerer Fassung.
Wenig bekannt ist die Tatsache, dass Glinka seine Bratschen­sonate alternativ auch für Violine vorgesehen hat. Seine späte Handschrift enthält – als einzige -– auch eine ausgeführte Violinstimme. Als Erstausgabe ist diese „Violinsonate“ jetzt ebenfalls bei Partitura erschienen. Im Prinzip lehnt sich der Violinpart sehr eng an denjenigen der Viola an, enthält naturgemäß gelegentlich ein paar Oktavierungen, ist alles in allem eher instrumentenbedingte Anpassung als alternative Ausgestaltung. Als Resultat bewegt sich die Geige nahezu ausschließlich in mittleren und tiefen Registern.
Beide Notenausgaben – Viola- und Violinsonate – sind auf das Sorgfältigste editiert, enthalten im Vorwort in drei Sprachen – deutsch, englisch und russisch –Wissenswertes zur Entstehungsgeschichte und Quellenlage und im Anhang detaillierte Anmerkungen zum Notentext. Eine praktische Einrichtung mit Strichen und Fingersätzen besorgte für die Bratsche Thomas Riebl, der Violinpart ist unbezeichnet. Eine höchst willkommene Neuerscheinung, die ich mit Nachdruck empfehlen kann.
Herwig Zack