Wagner, Hedda
Sonatine op. 102 / Zwei Tänze op. 92 (Harlekinade/Das Echo)
für Klavier, Erstdruck
Hedda Wagner (1876-1950) wuchs als behütetes Einzelkind im österreichischen Linz auf. Der Vater war Arzt, Freidenker und hatte engen Kontakt zur Linzer Arbeiterbewegung. Dies war prägend für das Mädchen. Da Hedda sehr wissbegierig war und es in Linz noch kein Mädchengymnasium gab, bekam sie Privatunterricht. Zusätzlich eignete sie sich autodidaktisch Kenntnisse in Philosophie, Psychologie, Literatur- und Musikwissenschaft an. Sie konnte in mehreren Sprachen korrespondieren und die antiken Schriftsteller im Original lesen. Außerdem erhielt sie privaten Klavierunterricht in Linz, möglicherweise auch Gesangs-, Theorie- und Kompositionsunterricht. Mit 20 absolvierte sie die Staatsprüfung für Klavier mit Auszeichnung in Wien. 1902 ist ihre erste Komposition belegt, ein Klavierlied.
1911 schloss Hedda Wagner sich der Frauenbewegung an und trat der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Ein Jahr später wurde sie freie Mitarbeiterin beim sozialdemokratischen Linzer Tagblatt, später festangestellte Redakteurin. Als engagierte Frauenrechtlerin schrieb sie regelmäßig über Frauenthemen. Insgesamt sind etwa 1600 journalistische Veröffentlichungen belegt. Außerdem schrieb sie zahlreiche Erzählungen, Gedichte und 15 Romane.
1938 erhielt Wagner Schreibverbot, unter anderem wegen ihrer „judenfreundlichen Einstellung“. Um Geld zu verdienen, gab sie Nachhilfe- und Klavierunterricht und begann wieder zu komponieren. Ihr musikalisches Werk ist umfangreich und vielgestaltig. Es gibt zahlreiche Klavierlieder, Kammermusikwerke, Chorwerke, drei Opern und fünf Klavierstücke. Zu Wagners Lebzeiten wurde nichts davon gedruckt und kaum etwas aufgeführt.
Jetzt hat der Certosa-Verlag erstmalig zwei Klavierwerke herausgegeben, mit ausführlichem Vorwort zu Leben und Werk der Komponistin sowie einer Einführung in die Klavierstücke. Die dreisätzige Sonatine (untere Mittelstufe, einige weite Griffe müssen bewältigt werden) im klassisch-romantischen Stil war wohl für den Freundeskreis gedacht. Die beiden Tänze op. 92 (obere Mittelstufe) sind der Tänzerin Edith Wilensky gewidmet. Die Harlekinade ist ein freches, schnelles Stück, Das Echo punktet mit Humor.
Für den Unterricht sind sie nur zum Teil geeignet. Im Rahmen eines Komponistinnenkonzerts wären sie – verbunden mit der Biografie Hedda Wagners – aber eine Bereicherung, vor allem die zwei Tänze op. 92. Beim Notentext fällt auf, dass – bis auf die Tempoangaben am Anfang eines Stücks – keinerlei Vortragsbezeichnungen vorhanden sind. Lautstärke (bis auf ein einziges pp) und Artikulation fehlen ganz, Fingersätze und Pedalbezeichnung ebenfalls.
Hedda Wagner hat Mut und Durchhaltevermögen in schwierigen Zeiten bewiesen. Sie wurde 1947 in Linz für ihr Lebenswerk geehrt. Es wäre interessant, weitere Werke dieser bemerkenswerten Frau kennenzulernen.
Frauke Uerlichs