Gerland, Juliane

Soundtrack of my Life

Über den Zusammenhang von Identität und inklusions­orientierter Musizierpädagogik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2018 , Seite 22

Dieser Beitrag gründet auf der An­nahme, dass Zusammenhänge von Identität bzw. Biografie und Musik­lernen Potenziale bergen, die bislang noch zu wenig für den Instrumental- und Vokalunterricht genutzt werden – insbesondere für eine inklusionsorientierte Musizierpädagogik. Diese Potenziale werden unter Rückgriff auf entsprechende Diskurse in den Erziehungs­wissenschaften und der Sonderpädagogik beschrieben und erläutert. Anschließend werden ­konkrete Umsetzungsideen im Sinne einer Praxisanregung skizziert.

Die Begriffe Musik und Identität lassen sich unter verschiedenen Aspekten miteinander in Beziehung setzen. Bedeutsam erscheinen insbesondere die wechselseitigen Wirkungsgeflechte: Wie prägt Musik die Identitäten der Musizierenden? Wie die der Hörenden? Welche Identitätsmerkmale wirken sich wie auf musikbezogenes Handeln aus? Werden musikalische Präferenzen durch identitätsspezifische Faktoren (vor-)bestimmt? In welcher Weise tragen Musik und Musizieren zur Konstruktion von Identitäten bei?
Identität lässt sich verstehen als die Gesamtheit aller Eigenschaften und Merkmale einer Person, inklusive der Entwicklung über die Lebensspanne und in Verbindung mit der Reflexion dieser Gesamtheit durch die Person selbst. Dazu gehören Elemente wie Erscheinungsbild, Bewegungsroutine, Funktionen, Fertigkeiten, Vorlieben, Angewohnheiten, Tem­perament, persönliche Wertvorstellungen etc. Nach Heiner Keupp sind Identitäten individuelle Identitätskonstruktionen, die wir unterschiedlich bewusst gestalten und die sich stetig weiterentwickeln.1
Auch die Bedeutung von Musik ist individuell, dynamisch und konstrukthaft.2 Musik hat vor allem subjektive Bedeutung: Erst durch das Gehört- und Interpretiertwerden kann sie zur ästhetischen Erfahrung werden. Zum Vergleich: Auch Identitäten bilden sich im biografischen Verlauf immer differenzierter aus und komplettieren sich durch die bewusste Reflexion eben dieses Geworden-Seins. Diese Reflexion erfolgt sowohl auf kognitiver als auch auf emotionaler Ebene. Auch Musik kann gleichermaßen intellektbetont, aber auch emotional produziert, erlebt und „verstanden“ werden.
Beiden Begriffen ist gemeinsam, dass es sich strukturell zunächst um Rahmungen handelt, die subjektiv mit Bedeutung versehen werden müssen, um sinnhaft zu werden. Die Konstruktion und Weiterentwicklung der persönlichen Identität erfolgt dabei in einem ebenso komplexen und differenzierten Modus wie die individuelle musikalische Sozialisation. Im Zusammenhang mit der musika­lischen Sozialisation entsteht schließlich ein persönlicher und individueller Musikbegriff, der wiederum durch die aus ihm resultierenden musikbezogenen Vorlieben und Praktiken einen Baustein der Identität bildet.

Identitätskonstruktion von ­Menschen mit Lernschwierigkeiten

Die oben beschriebenen Begriffsverständnisse von Musik und Identität fußen deutlich auf einem reflexiven Verständnis sowohl von Musik als auch von Identität. So verstanden komplettieren wir unsere Identität erst durch gemachte Erfahrungen, deren Reflexion und Bewertung sowie ihre Einordnung in andere gemachte Erfahrungen. Was aber, wenn diese konstitutive Reflexion entfällt? Lässt sich Identität konstruieren und Musik vollgültig erleben und praktizieren, wenn die reflexive Dimension nur eingeschränkt wirksam wird?
Die Frage der Identitätsentwicklung und Iden­titätskons­truktion von Menschen mit Lernschwierigkeiten ist seit geraumer Zeit Gegenstand sonderpädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Diskurse. Für Menschen mit Lernschwierigkeiten kann das reflexive Erleben, Bewerten und Einordnen, das für ­eine bewusste Identitätskonstruktion und
-weiterentwicklung zunächst maßgeblich ist, abhängig vom Ausmaß der Lernschwierigkeiten, deutlich erschwert sein. Diese Erschwernis ist zum Teil in der Lernschwierigkeit selbst begründet, zu einem erheblichen Teil jedoch durch die jeweiligen behinderungsbedingten Lebensumstände.

Für Menschen mit Lern­schwierigkeiten kann das reflexive Erleben, Bewerten und Einordnen, das für eine bewusste Identitäts­konstruktion zunächst ­maßgeblich ist, deutlich erschwert sein.

So ist nach Theo Klauß insgesamt von einer größeren Vulnerabilität auszugehen, da Men­schen mit Lernschwierigkeiten vergleichsweise häufig mit abwertenden Vorurteilen, Bevormundungen und ungünstigen sozialen Vergleichen konfrontiert sind.3 So steigt das Risiko, ein negatives Selbstbild auszuprägen und in der Konsequenz weniger erfolgreich Identität konstruieren zu können. Saskia Schuppener differenziert die Risiken für die Identitätsbildung von Menschen mit Lernschwierigkeiten weiter aus. Neben den andauernden Fremdbestimmungs- und Ablehnungserfahrungen führt sie unter anderem Ausgrenzungserfahrungen sowie die Erfahrung eines Sonderstatus oder Schonraums und die häufige Erfahrung von Über- oder Unterforderung an. In Verbindung mit dem häufig tatsächlich in der Lernschwierigkeit begründeten Faktor der gering ausgeprägten Befähigung zur Bewältigung steigt das Risiko der beschriebenen sekundären Faktoren, die eher auf behindernde Umstände zurückzuführen sind, noch weiter.4
Als Antwort auf die Frage, wie sich unter diesen Umständen dennoch Identitätskonstruktion entwickelt, wird in Diskursen der Pädagogik die Einheit von Identität und Identitätsreflexion für Menschen mit Lernschwierigkeiten in Frage gestellt. Vielmehr sei zwischen Identität und Identitätserleben zu unterscheiden. Ziel einer entsprechenden Pädagogik wäre es demzufolge, diese Trennung von Identität selbst und ihrem bewussten Erleben bzw. ihrer Reflexion methodisch zu überbrücken. Zentrales Anliegen einer solchen Pädagogik ist es, die nicht-bewussten Anteile der Identität durch eine angemessene Methodik und Didaktik ins Bewusstsein zu rücken. Als Option bietet sich biografieorientiertes Arbeiten an,5 um so etwaige abstrakte Vorstellungen und Konstruktionen von Identität über konkret erinnerbare Elemente aus der Biografie anzuregen.6
Musik kann dazu aufgrund der ihr immanenten Eigenschaften einen unterstützenden Beitrag leisten. Die Mehrkanaligkeit bzw. Ganzheitlichkeit, mit der Menschen Musik aufnehmen und rezipieren, ermöglicht eine Verbindung von erinnerten Emotionen mit erinnerten Kognitionen. Durch das Eingebundensein in harmonische und rhythmische Verläufe werden auch verbal-kognitive Vorgänge wie Texterinnerung unterstützt. Insbesondere in der Arbeit mit Menschen mit Demenz werden diese Potenziale der Verknüpfung mit vielversprechenden Resultaten genutzt.7 Hier zeigt sich das Potenzial, das in der Verbindung biogra­fischer und musikalischer Ansätze für die Identitätskonstruktion von Menschen mit Lernschwierigkeiten sowie für eine inklusionsorientierte Musikpädagogik liegt.

Biografie, Identität und (Musik-)Lernen

„Für den Bereich der Pädagogik ist die Klärung des Verständnisses von Identität deshalb von zentraler Bedeutung, weil Identität die Doppelbezüglichkeit des Individuums zu sich selbst wie zur Gemeinschaft umfasst.“8 Diese Aushandlungsprozesse zwischen dem Ich, dem oder den Anderen und der umgebenden Welt sind strukturell auch stets in musikpädagogischen Situationen präsent. Verhandelt wird zwischen Lernenden und Lehrenden und darüber hinaus jeweils zwischen den Akteuren und dem musikalischen Gegenstand.

 

Gerade am Beispiel des Musiklernens lassen sich die beschriebenen Aushandlungsprozesse anschaulich beschreiben.

1 vgl. Heiner Keupp: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek 2002.
2 vgl. Heinz Geuen/Stefan Orgass: Partizipation – Relevanz – Kontinuität. Musikalische Bildung und Kompetenzentwicklung in musikdidaktischer Perspektive, ­Aachen 2007; Martina Krause: Bedeutung und Bedeutsamkeit. Interpretation von Musik in musikpädagogischer Dimensionierung, Hildesheim 2008; Anne Weber-Krüger: Bedeutungszuweisungen in der Musikalischen Früherziehung. Integration der kindlichen Perspektive in musikalische Bildungsprozesse, Münster 2014.
3 vgl. Theo Klauß: „Identität, geistige Behinderung und seelische Gesundheit – eine Einleitung“, in: Gudrun Dobslaw/Theo Klauß (Hg.): Identität, geistige Behinderung und seelische Gesundheit, Berlin 2008, S. 4-12.
4 vgl. Saskia Schuppener: „Muss die Identität bei Menschen mit geistiger Behinderung beschädigt sein?“, in: Dobslaw/Klauß, a. a. O., S. 45-57.
5 vgl. Schuppener; Christian Lindmeier: „Mit Menschen mit schweren und mehrfachen Beeinträchtigungen biografisch arbeiten – wie geht das?“, in: Tobias Bernas­coni/Ursula Böing (Hg.): Schwere Behinderung & Inklusion. Facetten einer nicht ausgrenzenden Pädagogik, Oberhausen 2017, S. 55-68.
6 vgl. Lindmeier.
7 Peter Alheit/Kate Page/Rineke Smilde: Musik und ­Demenz, Gießen 2015; Jörn-Henrik Jacobsen/Johannes Stelzer/Thomas Hans Fritz/Gael Chételat/Renaud La Joie/Robert Turner: „Why musical memory can be preserved in advanced Alzheimer’s disease“, in: Brain, 2015, Volume 138, Issue 8, S. 2438-2450; Darina Pet­rovsky/Pamela Z. Cacchione/Maureen George: „Review of the effect of music interventions on symptoms of anxiety and depression in older adults with mild dementia“, in: International psychogeriatrics, 2015, 27(10),
S. 1661-1670.
8 Vera Moser: „Identitätskonstruktionen in der Sonderpädagogik. Welche Normalität wird produziert?“, in: ­Ulrike Schildmann (Hg.): Normalität, Behinderung und ­Geschlecht. Ansätze und Perspektiven der Forschung, Opladen 2001, S. 95-107, hier: S. 95.

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