Ardila-Mantilla, Natalia
„Soy yo“ – „Das bin ich“
Wie können Musikschullehrende die Identitätsarbeit ihrer SchülerInnen sinnvoll begleiten?
Im Musikvideo zum Song „Soy yo“ der kolumbianischen Band Bomba Estéreo1 geht ein Mädchen tänzelnden Schrittes durch die Stadt. Es trifft auf spielende Kinder, auf zwei weitere Mädchen, die seine auffällige Frisur belächeln, auf drei ältere Jungs, die es bei seinen unbeholfenen Versuchen beim Basketball skeptisch beäugen, auf Breaker, die virtuos auf der Straße tanzen, und am Ende des Videos auch auf seinen Vater, der seine Hand hält und seinen Rucksack trägt. Bisweilen bleibt es stehen und singt, spielt Blockflöte oder tanzt selbstbewusst für die Betrachtenden zu dem Song mit der Hookline „soy yo“ („Das bin ich“).
In diesem Beitrag2 will ich folgenden Fragen nachgehen:
– Warum ist es in unserer Zeit besonders wichtig geworden, „soy yo“ sagen zu können?
– Was heißt überhaupt, „soy yo“ sagen zu können?
– Haben Musikschullehrende spezifische Möglichkeiten, Identitätsarbeit – also die Arbeit an eben diesem „soy yo“ – zu begleiten?
– Welche Risiken und Nebenwirkungen bringt dieser Impuls des Begleitens mit sich?
Herausforderungen der Patchwork-Identität
Meine Ausführungen zum Thema Identität beziehen sich auf die Arbeit des Sozialpsychologen Heiner Keupp, der das Konzept der Patchwork-Identität entwickelte und Identitätskonstruktionsprozesse – insbesondere von jungen Erwachsenen – jahrelang untersuchte. Ausgangspunkt von Keupps Arbeit ist die Einsicht, dass die heutigen kapitalistisch geprägten Industriegesellschaften intensiven Wandlungsdynamiken unterworfen sind, die zur Folge haben, dass die großen religiösen, philosophischen, kulturellen und politischen Deutungsmuster ihre Kraft verlieren.3 Die ehemals soliden Identitätsentwürfe brechen zusammen und die Subjekte dürfen und müssen die liegenbleibenden Bestandteile in die Hand nehmen und überlegen: Passt das zu mir?
Wenn es das Muster „Mutter“ mit seinen fixen Bestandteilen Ehe, Verantwortung für den Haushalt, finanzielle Abhängigkeit, Weihnachtskekse backen etc. nicht mehr gibt: Soll ich als Frau heiraten, Kinder bekommen, arbeiten, Kekse backen? Und wer bin ich dann, wenn ich das (nicht) tue? Postmoderne Menschen haben Möglichkeiten, die in der Moderne undenkbar waren; dafür ist ihnen die Orientierung abhanden gekommen, die die früheren fixen Identitätsentwürfe boten.4 Die Frage „Wer bin ich?“ ist also zu unserer ständigen Begleiterin geworden. Wie schaffen wir es täglich, darauf „soy yo“ antworten zu können?
Keupp geht bei der Beantwortung dieser Frage von folgender Prämisse aus: Wenn sich unsere Welterfahrung verändert, muss Identität neu definiert werden. Er verabschiedet sich von der Vorstellung der Identität als stabiles, homogenes, in jungen Jahren aufgebautes Konstrukt: Eine Identität hat man nicht; an einer Identität arbeitet man ständig und lebenslang. Wozu? Um in konkreten Lebenssituationen passende Plätze für sich finden zu können.5 Identität kann also nicht als ein individuell-autonomer, sondern als ein dialogischer Prozess zwischen Ich und Welt begriffen werden. Identität ist widersprüchlich, doppeldeutig, unbeständig, brüchig.6 Identitätsarbeit ist wie das ständige Nähen eines Patchworks: die permanente Suche nach ansprechenden, miteinander passenden Fragmenten, ihre kunstvolle Verknüpfung und die – mal mehr, mal weniger gelungene – Umsetzung von Gestaltungswünschen.7
Was heißt aber denn gelungen? Wenn die verbindlichen Orientierungsrahmen ihre Gültigkeit verloren haben, wie soll man behaupten, ein bestimmtes Patchwork wäre besser als ein anderes? Keupp betont an dieser Stelle, dass nach der Gesundheitsforschung der Mensch ein Grundbedürfnis nach Kohärenz hat: Identität mag grundsätzlich brüchig sein; Menschen müssen aber das Gefühl haben, dass es ihnen gelingen wird, aus den Fragmenten etwas zu bilden, das ihnen kohärent erscheint. Menschen brauchen für ihre psychische Gesundheit ein Identitätsgefühl, das heißt das „subjektive Vertrauen in die eigene Kompetenz zur Wahrung von Kontinuität und Kohärenz“.8 Und da Identitätsarbeit das Identitätsgefühl stärken, aber auch schwächen kann, ist es wohl legitim, über gelingende bzw. misslingende Identitätsarbeit zu sprechen.9
Welche Voraussetzungen hat gelingende Identitätsarbeit?
1 www.youtube.com/watch?v=bxWxXncl53U (Stand: 23.7.2018).
2 Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich am 23. November 2017 im Rahmen des Symposiums „Nur ein Vorzeichenwechsel?“ an der Wiener Musikuniversität gehalten habe. Eine ausführliche Version davon erscheint in Kürze in der gleichnamigen Publikation von Ivo Berg, Hannah Lindmaier und Peter Röbke (Hg.). Über das Symposium wurde berichtet in Rüdiger Behschnitt: „Nur ein Vorzeichenwechsel? Auf der Suche nach musikpädagogischen (Neu-) Orientierungen im Spannungsfeld aktueller gesellschaftlicher Veränderungen“, in: üben & musizieren 1/18, S. 34 f.
3 vgl. Heiner Keupp: Fragmente oder Einheit? Wie heute Identität geschaffen wird, 2004, www.ipp-muenchen.de/ texte/fragmente_oder_einheit.pdf (Stand: 19.3.2018), S. 1 ff. und Heiner Keupp: „Identitätsarbeit heute: Befreit von Identitätszwängen, aber ein lebenslanges Projekt“, in: Marika Hammerer/Erika Kanelutti-Chilas/Ingeborg Melter (Hg.): Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung II. Das Gemeinsame in der Differenz finden, Bielefeld 2013, S. 54 f.
4 vgl. Keupp 2004, S. 9.
5 vgl. Keupp 2013, S. 52 ff.
6 vgl. Florian Straus/Renate Höfer: „Entwicklungslinien alltäglicher Identitätsarbeit“, in: Heiner Keupp/Renate Höfer (Hg.): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, Frankfurt am Main 1997, S. 271.
7 vgl. Keupp 2013, S. 60.
8 ebd., S. 53.
9 vgl. Keupp 2004, S. 10 ff. und Keupp 2013, S. 58 ff.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2018.