Geiger, Wolfgang

Spielen ohne Noten

Eine quantitative Onlineumfrage unter Klavierlehrkräften zum Thema „Freies Spiel im Klavierunterricht“

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 4/2019 , musikschule )) DIREKT, Seite 10

Dieser Beitrag stellt die Ergebnisse einer Masterarbeit vor, die an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar vorgelegt wurde und sich mit dem „Freien Spiel“ im Klavierunterricht beschäftigt. Mit einer quantitativen Onlineumfrage und drei Experteninterviews wurde folgende Forschungsfrage untersucht: Wie gestalten Klavierlehrende an Musikschulen ihren Unterricht in Hinblick auf das „Freie Spiel“ und in welcher Beziehung steht dieses Handeln zu ihrer eigenen instrumentalen Ausbildung?

„Schülerinnen und Schüler messen zunächst einmal ihre Lehrer ebenso wie Studenten ihre Hochschullehrer an dem, was sie (nicht) können, eine altbekannte Erfah­rung, die vollkommen zu Recht schon immer bestand und heute mehr denn je besteht und nicht kritisiert werden sollte.“1 Was Hans Bäßler von Musiklehrenden an allgemeinbildenden Schulen fordert, kann auch auf Klavierlehrende an Musikschulen übertragen werden. Schülerinnen und Schü­ler erwarten von ihren Lehrenden, dass sie das Fach beherrschen. Die didaktischen Un­terrichtsschritte sind für Lernende nicht immer offensichtlich und so messen sie das Können der Lehrkraft an der künstlerischen Qualität ihres Spiels. Dass Klavierlehrende mit einem Klavier umzugehen wissen, sollte man voraussetzen können. Doch sind sie wirklich auf allen Gebieten ihres Fachs optimal vorbereitet?
Die eingangs erwähnte Umfrage richtete sich an Klavierlehrkräfte an Musikschulen in ganz Deutschland und umfasste 38 Fragen folgender Themenbereiche: soziodemo­grafische Angaben, eigene Lernbiografie, Selbsteinschätzung eigener Fähigkeiten, Inhalte des eigenen Studiums, Präferenzen der Lernenden sowie Fragen zur Musikschularbeit. Insgesamt konnten 564 Fragebögen (493 vollständig und 71 größtenteils vollständig) zur Analyse herangezogen werden.

Schulpraktisches Klavierspiel

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Improvisation führt zu einer Vielzahl an Be­grifflichkeiten. Eine einheitliche Begriffsdefinition gibt es nicht. Das Fach „Schulpraktisches Klavierspiel“ konnte nach einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung als inhaltlicher Anker aller Kompetenzen des improvisierenden Musizierens (im Gegensatz zum reproduzierenden Musizieren) konstituiert werden.2 Die Teil­bereiche des Fachs um­fassen u. a. „Liedbegleitung“, „Improvisation“ und „Vom-Blatt-/Partiturspiel“ und versuchen, möglichst viele Felder klavierpraktischer Kompetenzen zu erschließen. Diese Ob­jektivierung ermöglichte auch präzisere Fragestellungen in der Onlineumfrage.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Klavierlehrkräfte in Deutschland je nach eigenen Fähigkeiten die Vermittlung von Kompetenzen improvisierenden Musizierens in ihren Unterricht integrieren und eine eher positive Einschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten haben (Tab. 1).3

Während offenbar der Umgang mit Akkorden sowie das gleichzeitige Singen und Klavierspielen weniger Prob­leme bereiten, ist die eigene Wahrnehmung bezüglich Improvisation und dem Spielen nach Gehör nicht ganz so selbstbewusst.
Nicht jede Klavierlehrkraft hat sich vor dem Studium mit Improvisation beschäftigt und somit stehen die Ausbildungsins­titute in der Pflicht, Lehrende auf die Herausforderungen des improvisierenden Musizierens vorzubereiten. An deutschen Musikhochschulen wird zwar eine Fülle an Fächern wie Improvisation und Jazz/Rock/ Pop-Klavier angeboten werden. Wie Tabelle 2 jedoch zeigt, ist der Pflichtteil im Angebot der Hochschulen noch zu gering und sollte vor allem in der Improvisationsdidaktik erhöht werden.

Improvisieren – ein eigen­ständiges Fach?

Für die Idee, ein eigenes Fach für improvisierendes Musizieren zu etablieren, wurden im Rahmen der Masterarbeit vier Annahmen formuliert:
– Das Spielen nach Gehör wird hauptsächlich in den ersten Jahren des Klavierunterrichts in der Unterstufe praktiziert und in der Mittel- und Oberstufe vernachlässigt.
– Spielen nach Akkorden (bzw. improvisierende Liedbegleitung) hängt stark von der Kompetenz der Lehrenden und den Wünschen der Lernenden ab.
– Die Improvisation ist nur Mittel zum Zweck, damit das zu erlernende Zielstück besser begreifbar gemacht werden kann.
– Das gleichzeitige Singen und Spielen findet kaum statt und könnte mehr gefördert werden.
Die Ergebnisse der Umfrage machen deutlich, dass in der Arbeit an Musikschulen und ähnlichen Institutionen das improvisierende Musizieren keinen großen Raum einnimmt (Tab. 3).

Jazz/Rock/Pop-Klavier ist als eigene Sparte am präsentesten. Es hat sich auch gezeigt, dass das Spielen nach Gehör tatsächlich nicht regelmäßiger Bestandteil des Unterrichts ist und wahrscheinlich nur im Anfangsunterricht eingesetzt wird. Der Umgang mit Akkorden wird hingegen wider Erwarten relativ häufig im Unterricht eingesetzt. Die längerfristige Beschäftigung mit improvisatorischen Ansätzen im Unterricht erfolgt aber kaum und bleibt vermutlich Mittel zum Zweck für zu bewältigende klaviertechnische Aufgaben.
Folgende Aussage von Wolfgang Brunner aus dem Jahr 1996 erscheint daher noch immer aktuell: „Die Wertschätzung der Improvisation als ein theoretisch mögliches, hohes Ideal des Musizierens scheint sich in der Praxis mit Berührungsängsten und äußeren Hindernissen […] die Waage zu halten.“4 So wird zwar das gleichzeitige Singen und Klavierspielen von den Lehrkräften in ihrer Selbsteinschätzung sehr gut gemeistert (Tab 1.), aber im Unterricht kaum eingesetzt (Tab. 3).

Chancen des improvisierenden Musizierens

Neben den quantitativen Erhebungen wurden Experteninterviews mit Mathias Weis aus Würzburg und Andreas Eschen aus Berlin geführt. Durch ihre individuellen Lernbiografien und ihre aktuelle Berufssituation eignen sie sich hervorragend, um die Diskussion mit ihren Beiträgen zu bereichern. Beide sind Musikschullehrer und Lehrbeauftragte für „Schulpraktisches Klavierspiel“ an einer Hochschule und befinden sich damit im direkten Spannungsfeld der vorliegenden Thematik.
Beide stellen klar: Auch wenn „ein Teilbereich“ im Klavierunterricht vorhanden ist, „gibt es das Fach [in der Musikschule] nicht“. Da aber die Nachfrage das Angebot regle, müssten sich die Musikschulen auf besondere Anforderungen einstellen. Mathias Weis sieht die Musikschule als Chance, da „die kontinuierliche Beschäftigung mit dieser Thematik über einen längeren Zeitraum sinnvoller ist“. Eine weitere Prob­lematik sei die Wahrnehmung der Ergänzungsfächer. Musik werde in Deutschland „eher als Freizeitbeschäftigung“ angesehen, was dazu führe, dass zusätzliche Fächer wie Musiktheorie, aber auch das „etablierte Jazzpiano nicht als Zweit- oder Ergänzungsfach gewählt“ werden. Es gebe meistens nur Klavierunterricht, der diese Inhalte zusätzlich umfasst.
Welche Möglichkeiten gibt es also, den klassischen Klavierunterricht durch schulpraktisches Klavierspiel zu ergänzen? Nach Weis kann „ein harmonisches Verständnis“ für die gespielte Literatur geschaffen werden. Mithilfe von Akkordsymbolen könnten beim Spiel eines „Chopin-Préludes wunderbar musikalische Begleitmuster in der linken Hand“ aufgezeigt oder eigene Begleitungen bei einem klassischen Variationssatz erfunden werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten die verschiedenen Fachdisziplinen ineinandergreifen und Synergieeffekte bilden. Für den klassischen Klavierunterricht bedeute das, dass das Spielen von Kinderliedern nach Gehör nicht nur „fester Bestandteil des Anfangsunterrichts“ sein sollte, sondern auch später systematisch fortgesetzt werden müsste. Die Erarbeitung von Jazz- und Popsongs sei ein großer Motivationsschub für viele Lernende und könne „in den normalen Klavierunterricht integriert“ werden. Sinnvoller wäre es aber, wenn die Lernenden die Gelegenheit hätten, in einer Band zu spielen. Die freie Improvisation komme neben einfachen Formen im Anfangsunterricht „niemals zu größerer musikalischer Differenziertheit“.
Obwohl es also eine Vielzahl an Möglichkeiten gibt, improvisierendes Musizieren in den Klavierunterricht einzubinden, machen die Ergebnisse der Umfrage jedoch sehr deutlich, dass das nicht immer gelingt. Dass improvisierendes Musizieren in den Unterricht gehört, ist offenbar fachlicher Konsens, aber vielleicht fehlt es noch an einer konsequenten Didaktik, die vor allem in den Ausbildungsinstituten als Pflicht eingeführt werden müsste…

Das Helsinki Pianostudio

Als Anregung sollen hier die Arbeiten des finnischen Klavierpädagogen Jyrki Tenni5 vorgestellt werden. Jyrki Tenni hat zahlreiche Literatur zu Liedbegleitung und Klavierimprovisation veröffentlicht und während seiner Zeit an der Sibelius-Akademie in Helsinki neue fortschrittliche Lernmethoden entwickelt, die er in seinem Helsinki Pianostudio umsetzt.
In der vorherrschenden Unterrichtsform des Gruppenunterrichts hat je nach Gruppengröße jede Person ihr eigenes E-Piano, das mit Kopfhörern versehen und mit dem E-Piano der Lehrperson verbunden ist. Die Lehrperson kann dadurch zwischen den verschiedenen Klavieren hin- und herschalten und je nach Situation eingreifen bzw. weiterführende Aufgaben stellen.
Eine Unterrichtstunde beginnt beispielsweise mit einem fünfminütigen Warm-up zu Hörvermögen, technischen Fähigkeiten oder Begleitfähigkeiten, worauf sich zehn Minuten anschließen, um die Hausaufgaben mit einem Partner durchzugehen. Dabei spielt eine Person die Melodie, die andere die Begleitung. Je nach Können greift die Lehrperson ein, gibt Tipps und Hilfestellungen, damit im nächsten Schritt jedes Paar seine „Tagesversion“ vortragen kann. Jeder Vortrag wird von allen Gruppenmitgliedern in einer positiven Atmosphäre gewürdigt und mit konstruktiver Kritik bewertet, bevor ein neues Lied mit einer neuen Begleitung – in der Regel über das Gehör – eingeführt wird. Der Schwierigkeitsgrad ist im Anfängerkurs sehr niedrig gehalten. Das bedeutet z. B., dass entweder die Begleitung mit zwei Händen oder das Spielen einer Melodie mit einer Hand gefordert wird und die Anzahl der Akkorde auf zwei beschränkt bleibt. Erst nachdem das neu zu lernende Thema auditiv eingeübt wurde, kann die Aufgabe weiter anhand des Notenbildes erarbeitet werden. Oberstes Ziel, so Tenni, sei, dass die Schülerinnen und Schüler das Klassenzimmer verlassen und sich selbstbewusst mit der Übungsaufgabe befassen können. Sollten beim Üben daheim Schwierigkeiten auftreten, können die Begleitmuster zu Übungszwecken auch auf Youtube gefunden werden.

Ausblick

Die Übertragung von Jyrki Tennis Konzept auf Deutschland wäre eine Chance, das improvisatorische klavierbezogene Handeln mehr in den Mittelpunkt des fachlichen Diskurses zu stellen. Die Erweiterung des Konzepts auf jüngere Schülerinnen und Schüler könnte die Musikschularbeit enorm bereichern, ist aber gleichzeitig eine große didaktische Herausforderung. Die Erfolgsgeschichte des Fachs „Schulpraktisches Klavierspiel“ oder der Arbeit von Jyrki Tenni beruht unter anderem auch darauf, dass die Lernenden in diesen Fällen entweder Musikstudierende oder ältere Menschen sind, die mit genauen Zielvorstellungen, Wünschen und musikalischen Vorerfahrungen an die Materie herantreten. Kinder und Jugendliche entwickeln diese Form von Selbstmanagement erst noch und müssen daher von der Lehrperson begleitet, aber vor allem auch inspiriert werden.
Improvisierendes Musizieren braucht klare Vorstellungen, eine solide Klaviertechnik, musiktheoretisches Wissen, ein gutes Hörvermögen, stabile rhythmische Kompetenzen und einen starken Willen. Institutionell könnte ein eigenständiges improvisatorisches Klavierfach einige vernachlässigte Bereiche auffangen und einen anderen fachlichen didaktischen Schwerpunkt setzen.

1 Hochschule für Musik Weimar: 10 Jahre Bundeswettbewerb Schulpraktisches Klavierspiel Grotrian-Steinweg, Weimar 2002, S. 4.
2 vgl. Benjamin Seipel: Das Klavier in der Schule. Musikalische Lernbiographie, pianistische Aus­bildung und pädagogisches Handeln von Musiklehrenden, Köln 2013.
3 Bei den Fragen (mit dem Buchstaben Q nummeriert) mit Bewertungsskala wurde ein gewichteter Mittelwert berechnet, der von „-2“ bis „+2“ reicht. Dabei wurde unabhängig von der Fragestellung die positivste Einstellung zum improvisierenden Musizieren mit dem Wert „+2“ und die negativste Ausrichtung mit dem Wert „-2“ gewichtet.
4 Wolfgang Brunner: „Improvisieren wozu? Zur instrumentaldidaktischen Relevanz historischer Improvisationsfunktionen“, in: üben & musizieren 4/1996, S. 29.
5 Ralph Abelein/Jyrki Tenni: Liedbegleitung und Klavierimprovisation. Stilsicher Songs begleiten, Melodien passend harmonisieren, kreativ über Akkordfolgen improvisieren, Innsbruck 2014.