Notenlern-App NGM Kids

Georgiou, Aurelia / Matthias Krebs

Spielerisch Notenlesen lernen mit Apps

Beispiele und pädagogische Überlegungen zum App-Einsatz im Unterricht

Rubrik: Digital
erschienen in: üben & musizieren 2/2022 , Seite 34

Digitale Spiele sind in den vergangenen Jahren selbstverständlicher Teil unseres Alltags geworden. Die Entwicklungen haben gezeigt, dass Spiele nicht nur Un­terhaltung, sondern auch Lern­medium sowie Kulturgut sein können. Inwiefern lässt sich die beobachtete Begeisterung für digitale Spiele von Kindern bzw. SchülerInnen auch für Lernkontexte fruchtbar machen? Woran erkenne ich, welche Notenlese-App für meinen Unterricht die richtige ist?

In diesem Beitrag geht es um das Thema spielerische Lernapps und um eine Auswahl spielerischer Apps zum Notenlesen-Lernen, von denen einige im Rahmen einer erprobenden Praxisphase von Lehrkräften im regulären Unterricht eingesetzt wurden. Die Lehrkräfte beschreiben, wie die Integ­ration der Apps zu einer Veränderung des Unterrichts sowie ihrer pädagogischen Selbstwahrnehmung führte.

Notenlesen

Besonders im Kontext formaler Bildung sind Notenlesekompetenzen nach wie vor von Bedeutung und stellen eine zentrale Richtgröße der Lehrpläne an Musikschulen dar. Bezogen auf die abendländische Musiktradition wird unter dem Begriff Notenlesen gemeinhin die Dechiffrierung der Notenschrift zur Reproduktion von Musik verstanden, die seit dem 17. Jahrhundert als Kanon bis heute besteht. Gleichwohl wird im allgemeinen Sprachgebrauch unter Notenlesen nicht immer dasselbe verstanden: Aus der Vielzahl an Informationen, die etwa eine Orchesterpartitur umfassen kann, sind im Anfangsunterricht nur einige wenige relevant. Die Grundkompetenz des Notenlesens beinhaltet das Erkennen von Tonhöhen sowie Tondauern und rhythmischen Strukturen. Diese Fertigkeiten müssen wie andere Fertigkeiten auch geübt bzw. trainiert werden.
Im Folgenden stehen Apps im Zentrum, die das Lesen der Tonhöhen fokussieren. Apps, die ihre Inhalte und Methoden auf das Erkennen von Tondauern und rhythmischen Strukturen richten, sind in einem begleitenden Blog-Beitrag aufgeführt: http://forschungsstelle.appmusik.de/spielerisch-notenlesen-lernen-mit-apps/

Das Spielerische

Das Spielerische lässt sich anhand von sieben Aspekten umreißen: Fantasie(-welten), Regeln, audiovisuelle Gestaltung, Herausforderung, Reiz des Neuen, Kontrolle und Handlungsgeschichte. Spiele bringen das Potenzial mit sich, dass für SpielerInnen das Umfeld und die reale Welt in den Hintergrund rücken. Grund dafür ist der einnehmende Kreislauf von Aktion und sofortiger Rückmeldung durch das Spiel, worauf wiederum reagiert werden muss. Dabei findet beim Spielen Lernen statt, indem auf verschiedene Anforderungen Lösungen entwickelt und erprobt werden.
Bezugnehmend auf die Gestaltung von Lernumgebungen fällt häufig der Begriff Gamification, womit die Integration von Elementen (Spielmechaniken) aus (digitalen) Spielen beschrieben wird. Was Gamification ausmacht, geht jedoch über die Vergabe von Punkten, Abzeichen und High­score-Listen hinaus: Um intrinsische Mo­tivation zu erreichen, ist es entscheidend, sowohl Kooperation als auch Wettbewerb zu ermöglichen. Der soziale Faktor (z. B. dass ich sehe, wie erfolgreich FreundInnen sind oder dass ich mit ihnen in Konkurrenz treten kann) ist ebenso wie ein aussagekräftiges Feedback von Bedeutung: Viele SpielerInnen motiviert es, wenn sie wissen, wie sie sich einschätzen können, was bereits erreicht wurde und wie weit das nächste Ziel entfernt ist.
Insgesamt ist jedoch die Gestaltung von gut funktionierenden spielerischen Umgebungen besonders für formale Lerninhalte, die die Nutzenden zudem lange und intensiv fordern, eine komplexe Angelegenheit. Schon die allgemeine Spieledefinition von Spielen als Tätigkeit, die um ihrer selbst willen ausgeführt wird, widerspricht dem Konzept von zielgerichtetem Unterricht. So besitzen Lernspiele häufig eine durchsichtige pädagogische Prägung, repetierende Aufgaben mit stereotypem Feedback und wenig Adaptivität an wechselnde Herausforderungen. Eine Spielhandlung ist oft nicht gegeben und die Grafik meist kaum mit aktuellen Spielen vergleichbar.

Didaktisches Design

Die hier vorgestellten spielerischen Apps zum Trainieren des Notenlesens möchten in ihrer grafischen Darstellung Kinder ansprechen und kosten um die fünf Euro. Sie sind am ehesten mit Vokabeltrainern vergleichbar. Das Vermittlungskonzept ist auf den behavioristisch-kognitivistischen Ansatz limitiert: Es werden simple Aufgaben ohne große methodische Varianz gestellt, das richtige Ergebnis wird „belohnt“. Ihr Gaming-Potenzial ist eher begrenzt. Die didaktischen Möglichkeiten, die man sich von Software als multimedialer Lernwelt erhofft, werden nicht ausgeschöpft. Warum sollten wir uns ihnen dann zuwenden?
Die funktionale Übersichtlichkeit dieser Apps ermöglicht es, sie flexibel in unterrichtlichen Situationen einzusetzen: Da sie keine eigene Spielhandlung bieten, können sie von der Lehrkraft, z. B. durch eine konkrete Aufgabenstellung, kontextualisiert werden. Ebenso bieten die Apps keine Hinweise zur optimalen Realisierung der Aufgaben: Somit ist die Lehrkraft als Coach gefragt, um Strategien zu vermitteln, systematische Fehler zu erkennen und effektive Lösungswege zu finden. Auch moderiert die Lehrkraft die Übertragung der trainierten Inhalte auf die Musizierpraxis. In diesem Lernarrangement werden die Lernenden von der Spielumgebung der Apps weniger eingenommen, vielmehr sind die Apps Unterrichtsmedien, die von SchülerInnen und Lehrkräften gemeinsam genutzt werden. Sie bieten ein Material, das – pädagogisch reflektiert – auf fordernde Weise das Training ansprechend gestaltet.

Typen-Beispiele

Im Hinblick auf die unterrichtlichen Integ­rationsmöglichkeiten der Apps sind vor allem die Unterschiede in Bezug auf die Eingabe- und Abfragemodi relevant. Sie werden im Folgenden in vier Typen kategorisiert und mit Fallbeispielen illustriert.

1. Einzeltöne benennen bzw. einer Griffbilddarstellung zuordnen
Die Tonhöhe als Zuordnung einer Position im Liniensystem in Abhängigkeit vom Notenschlüssel – zum Teil mit etwaigem Versetzungszeichen – wird als Notenname oder Griffbilddarstellung abgefragt.

Beispiel: NGM Kids (iOS und Android)
In der Spielewelt eines Ninja-Helden können die SpielerInnen in vier Levels, bei denen sich Anzahl und Ambitus der abgefragten Noten erhöht, im Single-Choice-Modus trainieren. Am Ende einer Spielrunde wird der Ninja-Held je nach Leistung mit einem Gürtel in entsprechender Farbe ausgezeichnet. Eigene Levels mit frei gewähltem Tonvorrat können erstellt werden, außerdem gibt es zu jedem Level die Möglichkeit, sich in einer Selbstlernumgebung ohne Zeitdruck selbst abzufragen. In der „Class Games“- bzw. „Studio Games“-Version können mehrere SpielerInnen angelegt werden, die in Highscorelisten verglichen werden können. NGM Kids ist in englischer Sprache, daher wird der Ton h als b benannt.

2. Zusammenhängende Töne benennen bzw. einer Griffbilddarstellung zuordnen
Die Notennamen mehrerer Tonhöhen werden hintereinander abgefragt. Ist ein Referenzton bekannt, können die folgenden Tonhöhen hergeleitet werden.

Beispiel: Mozart 2 Pro (iOS)
Auf einer Notenzeile fliegen Noten von rechts nach links über den Bildschirm. Bevor eine Note den linken Bildschirmrand erreicht hat, muss der Spieler oder die Spielerin sie korrekt auf dem Eingabefeld eintippen, um nicht „Leben“ zu verlieren. „Aktionsnoten“ mit Zusatzpunkten oder sich verändernder Position etc. bringen erzeugen Spannung. Im Laufe der fein abgestuften Level, die nach Tonarten gespielt werden können, erhöhen sich Ambitus und Spieltempo. Die Highscoreliste bietet SpielerInnen Vergleichsmöglichkeiten.

3. Einzeltöne auf dem Instrument spielen
Die Tonhöhe als Zuordnung einer Position im Liniensystem in Abhängigkeit vom Notenschlüssel wird am physischen Ins­tru­ment abgefragt. Die Eingabe per Mikrofon ist übungsbedürftig.

Beispiel: Note Rush / Noten lesen (iOS und Android)
Der Spieler oder die Spielerin soll auf Zeit Einzeltöne auf dem Instrument wiedergeben, die über das Mikrofon des Mobilgeräts abgeglichen werden. Es gibt vier bzw. fünf Level, bei denen der Ambitus (bei Note Rush auch Anzahl) der abgefragten Noten steigt, eigene Level mit frei gewähltem Tonvorrat können ebenfalls erstellt werden. Noten lesen lässt sich für alle gängigen Instrumente einstellen, Note Rush hingegen sollte vorab getestet werden, da einige Instrumente nicht gut von der App erkannt werden (z. B. Harfe, Posaune). Note Rush ist in englischer Sprache, daher wird der Ton h als b benannt.

4. Zusammenhängende Töne auf dem Ins­trument spielen
Auf dem physischen Instrument werden mehrere Tonhöhen hintereinander abgefragt. Ist ein Referenzton bekannt, können die folgenden Tonhöhen hergeleitet werden.

Beispiel: TunyStones
In 126 aufeinander aufbauenden Leveln begeben sich die SpielerInnen mit dem Spielhelden Tuny auf die Reise auf einem Flusslauf. Der Fluss kann auf Steinen, die die zu spielenden Noten symbolisieren, passiert werden. Enthalten sind einige bekannte Melodien wie Beethovens Ode an die Freude. Im Laufe des Spiels steigen Anzahl und Ambitus der abgefragten Noten und die Intervalle zwischen den Noten werden größer. Zusätzlich können über 60 eigene Level erstellt und gespeichert werden, die sich neben dem personalisierten Notenlesetraining auch dafür eignen, erste Kompositionsversuche mit den SchülerInnen zu unternehmen. Die App ist ausschließlich für den Klavierunterricht konzipiert.

Die meisten der untersuchten Apps lassen sich für eine Bandbreite an Instrumenten nutzen. Für Gesang gibt es bei der Tonhöhenerkennung eine Besonderheit, da SängerInnen die Intervalle zwischen den Noten statt den absoluten Tonhöhen lesen. Insgesamt finden sich verschiedene weitere Apps für Fortgeschrittene, die weniger spielerisch sind, mit denen Blattsingen und -spielen trainiert werden kann (siehe den begleitenden Blog-Beitrag).

Erfahrungen aus dem Unterricht

Die Apps NGM Kids und Note Rush wurden über mehrere Wochen von InstrumentallehrerInnen verschiedener Fächer im Un­terricht erprobt. Im Folgenden werden einige zentrale Erkenntnisse zusammengefasst:

1. Die Lehrkräfte beschreiben, wie sie die Apps methodisch in das Unterrichtsgeschehen einbinden konnten. Einerseits betrifft dies die verschiedenen Unterrichtsphasen, in denen die Apps als flexible Elemente des Unterrichtsaufbaus Verwendung fanden: Als Teil des Einspielprogramms, als motivierende Belohnung oder als methodische Abwechslung. Eine Lehrerin schildert, wie sie mit der App auch verschiedene Spiele für den Gruppenunterricht entwickelt hat.
Andererseits dienten die Apps als Hilfsmittel, um mit den SchülerInnen konkrete Aspekte beim Erlernen der Noten anzugehen: Lehrkräfte berichten davon, wie sie den SchülerInnen neue Töne mit der App erklärt oder Notenlese-Probleme, die während des Unterrichts aufgetreten sind, mit der App aufgegriffen und geübt haben. Einige LehrerInnen haben die Apps auch als Analyseinstrument schätzen gelernt: „Also für mich war das sehr interessant, es hat mir wirklich zum Teil Probleme aufgezeigt, die die Schüler haben, die ich vorher so nicht erkannt hatte.“

2. Die Lehrkräfte haben durch die Verwendung der Apps eindrückliche Veränderungen in Arbeitsweisen und Rollen feststellen können. Eine Lehrerin berichtet, wie sich SchülerInnen im Gruppenunterricht beim Spiel mit der App geholfen und sich gegenseitig z. B. Griffe erklärt hätten und dadurch eine kollaborative Interaktion zwischen ihnen entstanden sei, die es zuvor im Unterrichtsgeschehen nicht gegeben hatte. Sie als Lehrerin hätte sich in diesem Fall als Moderatorin im Hintergrund halten können. Ein Lehrer stellte fest, dass das Spiel mit der App fortgeschrittene Eigenständigkeit bei SchülerInnen in Bezug auf das Lernhandeln auslöste: „Die haben spielerisch ihre Unfähigkeiten erkannt. Ohne, dass ich das mach. Wenn die die Noten verwechseln oder länger brauchen, dann sind die darauf fixiert, beim nächsten Mal den Highscore verbessern zu wollen.“

3. Die Wahrnehmung der Lernautonomie der SchülerInnen, die durch die Benutzung der App geweckt wurde, führte auch bei einigen Lehrkräften zu pädagogischen Reflexionsprozessen. So berichtet eine Lehrerin, dass sie durch die App festgestellt habe, „dass meine Rolle als Lehrer sehr lehrerzentriert ist“. Der Impuls, sich als Lehrperson zu hinterfragen, in Verbindung mit der Möglichkeit, SchülerInnen zu aktivem Lernhandeln zu motivieren, führte zum Überdenken des eigenen Rollenverständnisses.

Schlussbemerkung

Die Resonanz der Lehrkräfte nach der Praxiserprobung war überwiegend positiv. Fast alle LehrerInnen wollen die Apps künftig in ihren Unterricht einbinden. Als problematisch wurde allerdings die Nutzung des privaten Handys für die Verwendung der Apps empfunden. Hier wurde mehrfach der Wunsch nach von der Musikschule bereitgestellten Tablets geäußert. Die Möglichkeit, die Apps über den Unterricht hinaus auch zu Hause zum Üben einzusetzen, wurde in diesem Fall von den SchülerInnen nicht genutzt. Bei einem großen Teil der SchülerInnen wäre eine Verwendung ohne die Hilfe der Lehrkraft herausfordernd bzw. müsste im Unterricht besprochen und geübt werden.
Ziele des Einsatzes von Apps können auch in der Förderung von Eigenverantwortung und Kooperationsfähigkeit von SchülerInnen liegen. Nicht nur Fachwissen wird dadurch vermittelt, sondern auch selbstständiges Lernen, Teamfähigkeit und Kommunikation können gestärkt werden. Werden Apps im Sinne eines aktiven, selbstgesteuerten, sozialen, emotionalen und situierten Lernens integriert, verändert sich die Rolle der Lehrkraft zur Moderatorin oder zum Lernbegleiter.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 2/2022.

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