Clemens K. Thomas: "Tempo giusto" aus "Skizzenblock"

Thomas, Clemens K.

Spielplätze komponieren

Über die Herausforderungen, für Lernende zu komponieren

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2020 , Seite 12

Für den Instrumentalunterricht zu komponieren, ist eine kompositorisch-pädagogische Herausforderung. Das Projekt NEUES ZEUG sucht seit 2015 nach innovativen instrumentalpädagogischen Ansätzen und kommt zu dem (vorläufigen) Schluss: Das Spielen sollte in den Mittelpunkt gestellt werden; nicht Werke, sondern Spielplätze gilt es zu komponieren.

Wie schreibe ich für kleine Hände? Wie notiere ich präzise, ohne die SpielerInnen zu überfordern? Welche technischen Hürden sollte ich meiden, da sie bei diesem Lernstand noch zu schwierig sind? Viele KomponistInnen, die im Rahmen von NEUES ZEUG für Lernende komponieren, haben sich vor dem Komponieren genau mit solchen Fragen beschäftigt. Sicher: Das sind wichtige Fragen. Aber zugleich sind sie defizitär und reduzieren Lernende auf das Unfähige und Unfertige. NEUES ZEUG verfolgt einen anderen, keinen defizitorientierten, sondern einen ressourcenorientierten Ansatz. Dieser Beitrag basiert auf den Erfahrungen, die bei der Begleitung von 35 NEUES ZEUG-Stücken und 30 KomponistInnen gemacht wurden. Im Folgenden wird zunächst die grundlegende Absicht skizziert, mit einer Komposition ein ­„relativ Neues“ zu schaffen, das ganzheitliche Musizier­erfahrungen befördert und zum Spiel auffordert. Anschließend werden exemplarische Herangehensweisen an das Komponieren für Lernende vorgestellt und die Schwierigkeit, Musik zu notieren, erläutert.

Das relativ Neue

Schüler, 12 Jahre: „Am Anfang waren das einfach verkehrte Töne, das kannte ich bisher noch nicht! Aber jetzt hört sich das für mich so natürlich an. […] Wir sind Harmonien gewohnt und das hat das Stück. Es ist halt auf eine andere Art und Weise harmonisch – aber die sind wir nicht gewohnt! Und das ist interessant.“1
Das „Neue“ an Neuer Musik ist ein relativ Neues, das heißt: ein für den Schüler bisher unbekannter Erfahrungs- und Möglichkeitsraum, den er sich in einem Prozess der Konfrontation, Exploration, Reflexion und (im besten Fall) persönlichen Identifikation zu eigen machen kann. Das „Neue“ steht im Bezug zum Gewohnten, nicht nur als Negation, als Un-Gewohntes, sondern auch als Verbindung, als Link. Es ist daher das Ziel, Musik zu schreiben, die an bisherige Erfahrungsräume und Zugangsweisen anknüpft, ja, die eine gewisse „Nähe“2 zur Lebenswelt des Spielers herstellt – und zugleich dieses Gewohnte erweitert, umkehrt, verzerrt, hinter sich lässt… Kurzum: Das Gewohnte wird zu einem nicht mehr oder noch nicht Gewohnten, zu einem relativ Neuen.

Ganzheitliche Musiziererfahrungen

Schülerin, 14 Jahre: „Von der Schwierigkeit her ging eigentlich meine Stimme. Es war dann eher so dieses: Ja, wie spielt man das? Also, da musste man schon viel reininterpretieren und überlegen: Was will ich eigentlich zum Ausdruck bringen?“
Die Neukomposition befördert ganzheitliche Musizier­erfahrungen, indem sie die Spielerin körperlich, emotional, kognitiv, spirituell, kommunikativ, in ihrer Wahrnehmung und in Bezug auf ihre Geschichtlichkeit fordert.3 Die Spielerin ist keine bloße Nach-Spielerin, sondern vielmehr eine Interpretin im Wortsinn des Begreifens und Auslegens: eine Co-Creatorin.

Aufforderung zum Spiel

Schülerin, 13 Jahre: „[Mein Stück] ist kurz, aber es hat so viele unerwartete Sachen. Und das macht irgendwie voll Spaß, das dann so zu spielen. Und es auch so zu spielen, dass man selber das so unerwartet für die Zuhörer spielt.“
Da „alle Dimensionen des Musizierens vom primären Impuls des Spielens geleitet und durchdrungen“4 sind, ist das neue Stück eine Aufforderung, ja, eine Herausforderung zum Spiel. Es eröffnet eine eigene, gegenwärtige, in sich unendliche, spannende und bisweilen unvorhersehbare Welt und provoziert das Experimentieren und Erfinden. Um eine Spielaufforderung zu sein, ist das neue Stück kein Mittel zum (pädagogischen) Zweck, sondern begründet sich in sich selbst.5

Mit diesen drei Absichten bzw. Zielen im Hinterkopf, werden schlaglichtartig mögliche Herangehensweisen vorgestellt. Sie sind keinesfalls vollständig, sondern als Inspirationsquelle für das eigene Komponieren zu verstehen.

1 Alle Zitate der SchülerInnen sind den YouTube-Videos von NEUES ZEUG entnommen. Die Videos sind über die Website www.neues-zeug.de zu finden.
2 vgl. Martin Tröndle (Hg.): Nicht-Besucherforschung. Audience Development für Kultureinrichtungen, Wiesbaden 2019. Für die Gewinnung von Nichtbesuchern sei die Erfahrung bzw. Herstellung von Nähe wesentlich. Es wäre interessant, dieses Narrativ auf eine „Nichtspieler-Forschung“ zu übertragen.
3 vgl. Andreas Doerne: Umfassend Musizieren. Grund­lagen einer ­Integralen Instrumentalpädagogik, Wies­baden 2010, S. 108-112.
4 Wolfgang Rüdiger: „Spielen und Spiel als Leitidee instrumental­pädagogischen Handelns“, in: Barbara Busch (Hg.): Grundwissen ­Instrumentalpädagogik. Ein Wegweiser für Studium und Beruf, Wiesbaden 2016, S. 33.
5 vgl. Andreas Doerne: „Warum spielen wir nur so wenig, wenn wir Musik machen?“, in: Andreas Doerne: ­Musikschule neu erfinden. ­Ideen für ein Musizierlernhaus der Zukunft, Mainz 2019, S. 74-83.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2020.