Mahlert, Ulrich
Sprechen als Musizieren
Gedichte zum Klingen bringen
Gedichte sind sprachliche Kunstwerke, die wie Musik in klanglicher Wiedergabe zur Geltung kommen. Wie können Übungen im Sprechen von Gedichten musikalische Fähigkeiten entwickeln?
Sprache und Musik sind entstehungsgeschichtlich und in ihren Erscheinungsformen miteinander verbunden. Manche Theorien zur Genese der beiden Ausdrucksformen nehmen an: „Sprache und Musik scheinen einen gemeinsamen evolutionären Vorläufer zu haben. Beide beruhen auf gemeinsamen prosodischen Kategorien“,1 also auf lautlichen Eigenschaften wie Tonhöhenverlauf, Lautstärke, Klangfärbung, Akzentuierung. Andere Theorien versuchen nachzuweisen, „dass Musik vor der Sprache entstanden ist“.2 Wie auch immer: Vielfach wurde und wird im Laufe der Musikgeschichte über den „Sprachcharakter“ von Musik debattiert; Gemeinsamkeiten von Musik und Sprache wie auch ihre Differenzen wurden benannt.3
In diesem Beitrag geht es weniger um Sprache und Musik, sondern vor allem um Sprechen und Musizieren. Im Blickfeld stehen also performative Aktivitäten, und zwar insbesondere die des Sprechens.
Anregungen zu meinen primär praxisorientierten Ausführungen boten Erfahrungen in einigen Workshops, in denen Hemmungen beim Musizieren zu überwinden waren. Ein Beispiel: In einem Kurs zum Thema „Didaktische Analyse und Unterrichtspraxis“ sollten werkstattartig in Form eines Circle Teaching4 unterrichtspraktische Ideen erprobt werden. Vor der Veranstaltung waren alle Teilnehmenden per Mail gebeten worden, jeweils ein kurzes Musikstück auszuwählen und bereit zu sein, es zu spielen. Dann sollten kleine unterrichtspraktische Übungen der Teilnehmenden mit der Spielerin bzw. dem Spieler folgen.
Nun also findet der Workshop statt. Zunächst mag niemand spielen. Als sich schließlich jemand traut, scheuen sich etliche TeilnehmerInnen, mit einem Spieler eines anderen Instruments als dem eigenen zu arbeiten. Meine Ermutigung, dass dabei oft interessante und ungewohnte Ideen entstehen, löst die Hemmung nicht auf.
Um solche Schwierigkeiten zu vermeiden, wähle ich gern eine andere Vorgehensweise, die ich in etlichen Hochschulseminaren zum Thema „Sprache – Sprechen – Musik – Musizieren“ erprobt habe. Anstatt gleich mit einem der von den TeilnehmerInnen mitgebrachten Musikstücke zu beginnen, schlage ich ihnen vor, zunächst ein Gedicht zu musizieren. Alle sind verblüfft. Ich erkläre ihnen, dass sich auch Sprechen als Musizieren auffassen lässt. Beides sind performative Handlungen, die viele gemeinsame Gestaltungselemente haben. Wie ein Musikstück kann auch ein Gedicht interpretiert werden, und zwar in doppelter Weise, nämlich mit sprachlichen Mitteln deutend und musikalisch-performativ. Und ebenso wie am Vortrag eines Musikstücks lässt sich auch an der gesprochenen Wiedergabe eines Gedichts unterrichtspraktisch arbeiten. Ein geschriebener Gedichttext ist eine sprachliche Partitur, die darauf wartet, in Wortklang umgesetzt zu werden.
Sprechen kann aber nicht nur Interpretieren sein. Im Alltagsleben geschieht es improvisatorisch. Wer ohne Skript zu jemandem spricht, improvisiert. Eine Unterhaltung mehrerer Menschen ist eine Gruppenimprovisation.
Meine Erklärungen wecken Neugier und lösen die anfängliche Skepsis auf. Die Teilnehmenden sind bereit und freuen sich darauf, statt mit einem Musikstück zunächst mit einem Gedicht zu experimentieren.
Darstellungsmittel
Bevor ich Möglichkeiten der Werkstattarbeit mit dem Sprechen von Gedichttexten beschreibe und einige weitere Anregungen im Aktionsfeld von Sprechen und Musizieren gebe, sollen kurz die hauptsächlichen performativen Gemeinsamkeiten von Sprechen und Musizieren ins Licht gerückt werden. Nachfolgend eine stichwortartige Zusammenstellung mit einigen erläuternden Hinweisen:
– (Grund-)Tempo
– Variabilität des Tempos (= Agogik)
– Dynamik: quantitativ, aber auch qualitativ: Charakter z. B. eines Forte, eines Piano
– Klangfarbe, Sound, „Tonfall“
– Artikulation
– Akzentuierung
– Phrasierung
– Realisierung der Interpunktion: Komma, Semikolon, Punkt, Ausrufezeichen, Fragezeichen, Gedankenstrich…
– Energetik: Spannungsverlauf von kleineren und größeren Einheiten (wo nimmt Spannung zu, wo ab?)
– Spannungsgefüge der Polarität von Tanz („ich lasse die Musik/den Text pulsieren“) und Deklamation („ich ‚spreche‘ die Musik“, bei Texten: ich vermeide ein metrisches Skandieren zugunsten eines den Sinn des Vorgetragenen hervorhebenden, rhythmisch freien, rhetorisch profilierten Sprechens)5
– Pausengestaltung (nachhörend, voraushörend…)
Neben diesen primär aus der Musik bzw. dem Text abgeleiteten performativen Kriterien sind noch einige weitere Vorstellungs- und Gestaltungsmittel zu beachten, die mehr die Körperlichkeit des Vortrags betreffen:
– Haltung/körperlicher Tonus, z. B. aufgerichtet oder gebeugt, gespannt oder spannungsarm, nach vorn gebeugt oder zurückgelehnt
– Mimik: „Einstellung“ zu Beginn des Stücks bzw. Textes, „sprechendes“ Minenspiel im weiteren Verlauf
– Gestik
– Atemführung: schnell, heftig, langsam, sparsam… – besonders für Anfänge von Musikstücken und Sprachtexten ein wichtiges Gestaltungsmittel
1 Leimbrink, Kerstin: „Sprache und Musik in der (linguistischen) Forschung: Ursprung, Verarbeitung und Potentiale für die Sprachförderung“, in: Bayrak, Cana/Frank, Annika/Heintges, Jessica/Sotkov, Mihail (Hg.): Von Anapher bis Zweitsprache. Facetten kommunikativer Welten, Dortmund 2021, https://pub.ub.tu-dortmund.de/en/publisso_gold/publishing/books/overview/1/128 (Stand: 4.6.2024).
2 Altenmüller, Eckart: Vom Neandertaler in die Philharmonie. Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann, Berlin 2018, S. 75.
3 dazu z. B. Gruhn, Wilfried: Musiksprache – Sprachmusik – Textvertonung. Aspekte des Verhältnisses von Musik, Sprache und Text, Frankfurt am Main 1978; Riethmüller, Albrecht (Hg.): Sprache und Musik. Perspektiven einer Beziehung, Laaber 1999.
4 Mahlert, Ulrich: „Circle Teaching. Eine Lernform für Studium und Fortbildungen“, in: üben & musizieren, Heft 4, 2017, S. 28-30.
5 vgl. Uhde, Jürgen/Wieland, Renate: Denken und Spielen. Studien zu einer Theorie der musikalischen Darstellung, Kassel 1988, S. 149-159.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2024.