Stibi, Sonja

Stream on!?

Musikvermittlung im Spielraum des Digitalen

Rubrik: Digital
erschienen in: üben & musizieren 1/2022 , Seite 36

Lange Zeit war Digitalisierung für den Konzertbetrieb ein Nebenschauplatz – und dann kam Corona! Für gut ein Jahr hat sich das Kulturleben weitgehend ins Netz verlagert, denn digitale Formate waren der einzige Weg, sichtbar zu bleiben und ein Publikum zu erreichen. Dies ist Anlass, über das Verhältnis von Digitalisierung und Musikvermittlung und damit einhergehende Potenziale und Herausforderungen nachzudenken.1

Die Schließung der Kulturinstitutionen bewirkte eine Beschleunigung für die Bespielung des digitalen Raums. Streaming-Plattformen wie z. B. Digital Concert Hall wurden schon zuvor entwickelt, um die Krise des klassischen Konzerts zu überwinden und ein jüngeres Publikum anzusprechen. Doch seit März 2020 wirken die Beschränkungen der Pandemie als Rückenwind für die Digitalisierung im Konzertbetrieb. Wohnzimmer, Balkone, Küchen, Straßen und Gärten wurden zu Konzert- und Workshopräumen. Trotz Distanz entstand virtuelle Nähe, wurden KünstlerInnen erzählend und spielend in YouTube-Streams als Persönlichkeit erlebbar wie z. B. Daniel Hope in Hope@Home.

Systematik digitaler ­Vermittlungsformate

Nach anfänglichen Spontanvideos mit dem Handy hat sich inzwischen ein breites Spekt­rum an professionell(er) produzierten digitalen Formaten entwickelt. Die Systematik in Abbildung 1 versammelt ohne Anspruch auf Vollständigkeit ein Spektrum digitaler Formate, die bis Pfingsten 2021 entstanden sind, wobei sich Überschneidungen in der Zuordnung ergeben. Neben einer Vielfalt an unterschiedlichen Streaming-Angeboten sind dies auditive, performative, interaktive, partizipative und immersive Formate, die unterschiedliche Aktions- und Aktivierungsmöglichkeiten des Publikums beinhalten.

Manche dieser Formate gab es bereits zuvor, im Zuge der Pandemie ist das Angebot jedoch nahezu explodiert und deutlich bunter, vielfältiger und differenzierter geworden. Insbesondere partizipative Formate wie Onlineworkshops, Mitmachkonzerte oder play@home-Videotutorials, die praktische künstlerische Aktivitäten des Publikums beinhalten, sind gewachsen. Diese richten sich vorwiegend an Kinder, Familien oder Schulklassen. Ausnahmen bilden reproduktive Angebote wie das Kammermusik-Playalong #MPhilMinus1 der Münchner Philharmoniker, das Music­Lab der Kammerphilharmonie Bremen oder WDR Singmit, die auch Erwachsene ansprechen.
Neu sind auch Interaktionsformate wie das Publikumsgespräch am Burgtheater, die Watchparty zum Freischütz der Bayrischen Staatsoper oder Video-Chats mit MusikerInnen für Schulklassen z. B. vom BR-Symphonieorchester. Im Bereich des Streamings zeigt sich eine zunehmende Professionalisierung und Qualitätssteigerung, weil nun gezielt für ein Publikum im Netz produziert wird.
Erst vereinzelt werden Möglichkeiten immersiver digitaler Technologien wie Animation, Virtual oder Augmented Reality genutzt, die unabhängig von der Pandemie entstanden sind, z. B. die Motion Graphic Novel der Bregenzer Festspiele, die VR-Brille in Oper und Ballett am Staatstheater Augsburg oder das Virtuelle Streichquartett und die Orchesterbox am Konzerthaus Berlin.
Was lässt sich aus diesem Panorama herauslesen? Nicht erst seit der Pandemie verändert Digitalisierung die Produktions-, Distributions- und Rezeptionsweisen von Musik, von Kunst. Daraus ergeben sich spezifische Chancen und Herausforderungen für die Vermittlung.

Outreach

Outreach zielt auf Vergrößerung der Reichweite und Erhöhung von Zugangschancen zu Kultur. Einerseits musste in der Pandemie ein analoges Publikum, das man zuvor durch aufsuchende Kulturarbeit vor Ort in Einrichtungen und Stadtteilen eingebunden hat, digital erreicht werden. Andererseits weitet sich in der Gesellschaft der digitale Handlungsraum. In der Verfügbarkeit digitaler Formate im Netz, die jederzeit und überall abgerufen werden können, liegt insofern eine Chance, den Wirkungskreis eines Ensembles oder Konzerthauses digital auszudehnen und jenseits des Standorts ein globales Publikum zu erreichen.
Hinzu kommt, dass nicht nur Erwachsene, sondern auch die Mehrheit der Jugendlichen ein Smartphone besitzt und laut JIM-Studie 20202 besonders Videoplattformen wie YouTube als Kulturort und informelles Lernmedium nutzt, die ebenso im Distanzunterricht verwendet werden. In der Bespielung dieser Plattformen liegt potenziell die Chance, mit dem hochkulturellen Betrieb verbundene Barrieren abzubauen und niederschwellige Zugänge auf Augenhöhe zu schaffen.3 Aber ist mit der freien Zugänglichkeit digitaler Inhalte schon kulturelle Teilhabe erreicht?

1 Eine längere Version dieses Aufsatzes findet man unter https://osf.io/unjsh (Stand: 22.12.2021).
2 JIM-Studie 2020. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, Stuttgart 2020, www.mpfs.de/studien/jim-studie/2020 (Stand: 9.7.2021).
3 Ivana Scharf/Johannes Tödte: „Digitalisierung mit Kultureller Bildung gestalten“, in: Kulturelle Bildung-Online 2020, https://doi.org/10.25529/ 92552.563 (Stand: 9.7.2021).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2022.