Bradler, Katharina

Streicherklassenunterricht

Geschichte - Gegenwart - Perspektiven

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wißner, Augsburg 2014
erschienen in: üben & musizieren 3/2015 , Seite 54

Anfangsunterricht in großen gemischten Gruppen ist keine Erfindung unserer Zeit, sondern hat Vorläufer, die in Deutschland bis ins 15., in England und den USA bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Wenn Streicherklassenunterricht und Rolland heute in Deutschland quasi als Synonym gesehen werden, so handelt es sich um eine zu kurz gedachte Gleichsetzung. Es ist Bradlers Verdienst, in ihrer Dissertation mit Hilfe einer ausführlichen Darstellung Begriffsklarheit zu schaffen.
Paul Rolland begann seine Karriere in den USA keineswegs mit gemischten Großgruppen, sondern mit Einzel- und Meisterklassenunterricht. In den 1940er Jahren finden sich dann in Interviews und Zeitschriften-Artikeln zunehmend Beiträge, die zeigen, wie Rolland Gruppen- und Einzelunterricht als gleichberechtigte Möglichkeiten nebeneinander (und nicht in hierarchischer Ordnung zueinander) sieht. Von 1968 bis 1972 schließlich verfasste Rolland sein großes Methodenwerk, auf dessen Grundlage sein Team im Illinois String Research Project ein Curriculum für den zweijährigen Unterricht in gemischten Klassen entwickelte.
Dennoch ist die Verbindung von Rolland und Streicherklassen­unterricht kein Missverständnis: Begreift man Violinspiel als eine von mehreren Arten, Streichinst­rumente zu spielen, so erschließt sich dahinter eine physikalisch und physiologisch begründete Spieltechnik, die für alle vier Streichinstrumente zu 80 Prozent gleich ist. Auf dieser Basis konnte ein Unterrichtskonzept entwickelt werden, mit dem gemischte Klassen unterrichtet werden können. Keine andere Geigen- oder Streichermethodik bietet eine so kleinschrittige Auf­fächerung komplizierter zusammengesetzter Techniken in ihre Teilbewegungen, nirgends sonst finden wir derart detailliert ausgearbeitete Zeitpläne für einen Anfangsunterricht, der alle späteren Wege bereits mit bedenkt und Grundlagen für schwie­rige Techniken schon in den ersten Stunden legt.
Bradler weist auf die Möglichkeit hin, Streicherklassenunterricht auf Grundlage anderer Methoden, beispielsweise von Silvays Colour Strings, zu entwickeln. Die Praxis bleibt bis heute allerdings Beweise zur Untermauerung dieser These schuldig, und auch Bradlers Buch führt diese These nicht näher aus. So bleibt es also auch nach 20 Jahren bei einer engen Verknüpfung von Rolland und Streicherklassen­arbeit, wie sie in den 1990er Jahren durch Donald Miller, Rollands engen Mitarbeiter, zu einem Fortbildungsprogramm für Lehrer in Deutschland formuliert wurde.
Zu Recht nicht ganz schlüssig ist sich Bradler in der Einschätzung der Situation in der Gründungsphase der ersten Streicherklassen. Immer wieder und immer noch war es in den 1990er Jahren nötig, Instrumentalunterricht mit Großgruppen unter Fachkollegen gegen Widerstände überhaupt erst gesellschaftsfähig zu machen, ihn trotz übergroßer Skepsis und Bestandsangst beispielsweise bei VdM oder ESTA zu realisieren. Dennoch kann die damalige Lage aus heutiger Sicht als günstig für die Verbreitung einer bis dahin in Deutschland nicht bekannten Unterrichtsform beschrieben werden.
Jedoch, und dies genau darzu­legen ist ein weiteres Verdienst von Bradlers Forschungen, müssen bei genauerer Untersuchung gravierende Unterschiede zwischen den Klassen der ersten Auf­bruchsphase und denen ­einer anschließend folgenden Epoche fast unkontrollierbarer Expan­sion festgestellt werden. Streicherklassenunterricht kam zu einer in der Praxis stetig wachsenden Popularität und die Zahl gegründeter Klassen übersteigt die Zahl ausreichend qualifizierter Lehrkräfte deutlich.
Gründe dafür sind in mehreren Fehleinschätzungen zu sehen. Ein erster Irrtum ist es zu meinen, dass sich mit Streicherklassenunterricht finanzieller Aufwand reduzieren ließe. Ein weiterer Irrtum besteht, wenn Erwartungen an nicht zu beweisende Transfereffekte von Musikunterricht gestellt werden, und schließlich ist es eine unzutreffende Vermutung, man könne sich in wenigen Tagen für die Unterrichtsform Streicherklassen­unterricht ausreichend qualifizieren.
Bradler nennt noch einmal klar die „Schlüsselqualifikationen“ für den Streicherklassenunterricht, „die nur in langfristiger Beschäftigung mit der Materie erlernt werden können“: Kenntnis von Grundlagen des Umgangs mit großen Gruppen, von Grundlagen der Instrumentaldidaktik und einer für den Streicherklassenunterricht geeigneten Instrumentalmethodik, z. B. Rolland-Metho­de; instrumentale Kompetenzen: herausragende Fähigkeiten auf einem Streichinstrument (Hauptfach), grundlegende Fähigkeiten auf dem zweiten und dritten Streichinstrument; Kenntnis von Teamarbeit und Repertoirekunde. Sie formuliert damit klare Standards, wie sie von verantwortungsbewussten Kolleginnen vor allem aus der ersten Verbreitungsphase für selbstverständlich erachtet werden. Dagegen verlor der Streicherklassenunter­richt nach und nach dort deutlich an Qualität, wo auch Nicht-Streicher meinten, Streicherunterricht oder sogar Fortbildungen geben zu können oder wo man von weiteren Standards abwich, beispielsweise dem mehrmals pro Woche stattfindenden Unterricht.
Das Bemühen von Streicherklassenlehrkräften um die Erhaltung dieser Standards spiegelt sich wider in den zahlreichen praktischen und schriftlich dokumentierten Beiträgen der ersten Projektgeneration auf Bundeskongressen des VdM, des VDS, des AfS, aber auch auf fünf internationalen Kongressen zum Streicherklassenunterricht in den Jah­ren 1998 bis 2015. Dort diskutierten KollegInnen Tendenzen und Weiterentwicklungen des Streicherklassenunterrichts, wie sie eine Erweiterung des zunächst auf Fünftklässler zugeschnittenen Programms auf Grundschulklassen oder ältere Anfänger nötig werden ließen. Rollands Methode stellt ein offenes System dar, das Modifikationen zulässt.
Darüber hinaus diskutierten Streicherlehrkräfte über Wege, die Musikalisierung ihrer SchülerInnen mit Methoden der Relativen Solmisation und der EMP weiter auszubauen und Elemente der Improvisation und Musik­erfindung im Streicherklassenunterricht einzusetzen, um neben instrumentaler Spielfertigkeit die Musikerpersönlichkeiten  gezielt zu entwickeln.
Katharina Bradlers Ausführungen werden dazu beitragen, dass sich eine Kollegenschaft der Qualität ihrer eigenen Arbeit versichert und sie gegen einen Trend zu unkontrollierter Expansion zu erhalten sucht.
Regine Schultz-Greiner