Schaefer, Eric

Suchen statt finden

Wenn ich nicht aufhöre zu suchen, dann kommt das Finden von allein

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2020 , Seite 13

Gewöhnlich denkt man, dass Lehrende alles zu ihrer Kunst Gehörende bereits gefunden hätten. Lernende hingegen müssten diese Fertigkeiten erst noch suchen. Doch Musik ist ephemer. Streng genommen existiert „die Musik“ nicht einmal, denn wenn wir MusikerInnen nicht spielen, gibt es keine Musik. Es ist eine Kunstform, die keine Spuren hinterlässt und somit jedes Mal von Neuem behauptet und erschaffen werden muss.

Je nachdem ob wir üben oder nicht, verändert sich auch unsere Fähigkeit zu musizieren. Dies gilt für alle Ausübenden der Musik, seien es Lehrende oder Lernende. Selbst wenn ich bereits alles zu meiner Kunst Gehörende gefunden hätte, so müsste ich dieses Wissen leben, es im Spiel hörbar machen und ins Außen tragen.
Mein Spiel verändert sich auch durch meine MitspielerInnen, durch den Raum, durch das Publikum. Auch verändert sich stetig mein Erfahrungsschatz, meine Sicht auf die Musik und weiter gefasst auf die Welt. Somit befinde ich mich musizierend auf einer endlosen Suche nach Ausdruck, der in jedem Moment des Spielens aufgefunden wird, um sich gleich wieder zu verflüchtigen, um aufgefunden zu werden.

Suchen
Seit über zehn Jahren unterrichte ich Jazz-Schlagzeug und Ensemble an Hochschulen. Doch die Musik, die den Genrebegriff Jazz trägt, kann erstaunlich divers klingen. Diejenigen, die ihn spielen, prägen ihm seine tönende Bedeutung auf. Somit gibt es nicht den Jazz der fünfziger oder sechziger Jahre, keine Genres und Stilistiken. Aber es gibt sehr wohl die Musik von Sonny Rollins, Billy Holiday oder Miles Davis. Und selbst der Miles Davis mit den akustischen Alben Kind of Blue oder Steamin’ ist ein anderer als der „elektrische“ Miles der Siebziger. Jazz könnte man einfach als das bezeichnen, was Spielende aus ihrer momentanen Gestimmtheit heraus über ihn erzählen. Der modus operandi dieses Erzählens ist ein improvisierter.
Was nun möchte ich Studierenden über Jazz und Improvisation beibringen? Einfach gesagt will ich sie dazu verleiten, ihre eigene improvisierte Geschichte zu erzählen. Doch wie fange ich das als Lehrender an? Was sind meine pädagogischen und künstlerischen Ansprüche?

Interesse und Individuum
Zehn Uhr morgens in der Hochschule Carl Maria von Weber in Dresden. Der erste Jazzschlagzeug-Student des Tages kommt zum Einzelunterricht in meinen Raum. Nach der Begrüßung frage ich ihn, was er seit dem letzten Unterricht für Erkenntnisse und Beobachtungen gesammelt hat: Wie lief das Konzert am Wochenende? Wie ist die Aufnahme der jüngst komponierten Stücke gelungen? Wie entwickelt sich das tägliche, manchmal mühevolle und Disziplin erfordernde Üben am Instrument? Gibt es genug Spiel und Austausch mit Kommilitonen? Aus dem Fragen, dem Interesse am anderen und aus dessen Antworten heraus ergibt sich ein Bild, eine Richtung, die der aktuellen Unterrichtsstunde Form und Inhalt gibt. Mein Anspruch ist es, diese Stunde so individuell zu gestalten, wie die Person es ist, die vor mir sitzt. Bevor ich Aufgaben stellen kann, die zu lösen sind, muss ich erfahren, was mit meinem Gegenüber gerade los ist, wofür und in welchem Maße seine Antennen empfangsbereit sind.

Fragen
Um aber nicht kurzsichtig bei der Planung einer einzelnen Unterrichtsstunde zu bleiben, frage ich etwas allgemeiner.
– Worum geht es in einem Musikstudium?
Ich denke, dass nach dem Abschluss die Fertigkeiten entwickelt sein sollten, ein selbstbestimmtes, zufriedenes, finanziell tragbares Leben mit und durch die Musik zu führen.
– Wie kann ein solches Leben aussehen?
Ich habe Studentinnen und Studenten unterrichtet, die Lehrerinnen und Lehrer geworden sind, Konzerte spielen, komponieren, Musik produzieren oder im Aufnahmestudio arbeiten. Es gibt wenige, die mit der Musik aufgehört haben, ein ehemaliger Student ist z. B. Dachdecker geworden.
– Was gehört dazu, ein Leben mit der Musik zu verwirklichen?
Natürlich benötigt man technisch-spielerische Fähigkeiten und ein breites stilistisches Wissen, wie es im Curriculum festgelegt ist. Doch ebenso wichtig scheint es mir zu sein, dass sich junge MusikerInnen früh und intensiv damit beschäftigen, was ihnen wirklich etwas in der Musik bedeutet, dass sie sich fragen, welche musikalische Beschäftigung ihren Neigungen und Fähigkeiten entspricht und wie sie diese kontinuierlich kultivieren. Auf diesem selbstgewählten Fundament, mit diesem Anspruch an sich selbst kann womöglich über Jahrzehnte die Neugierde und Freude am Forschen, Üben, Unterrichten und Vermitteln wachgehalten werden.
– Wie kann ich als Lehrender diesen Selbstfindungsprozess anregen?
Die Antwort auf diese Frage steht nicht im Lehrplan. In einer Fachhochschule werden Wissen und Fähigkeiten gelehrt, die nach dem Studium im Beruf angewendet werden. Im Gegensatz dazu liefert eine Kunsthochschule zwar Mittel und Wege an die Hand, um sich künstlerisch ausdrücken zu können, aber was es da auszudrücken gibt, ist nicht von vornherein ausgemacht, sondern muss gesucht werden. Mein Anspruch ist es daher, die Studierenden durch die Konfrontation mit mir im Unterricht dazu zu bewegen, dass sie sich fragen, zu welchem Zweck sie das alles lernen, sich zu fragen: Was fange ich mit dem erworbenen Wissen für mein Leben in der Musik an?

Neugierde
Für mich ist es wichtig, selbst als Künstler zu arbeiten, der Konzerte spielt, komponiert und Platten veröffentlicht, um das vermitteln zu können, was mir Jazz und improvisierte Musik bedeuten: ein Suchen und Ringen nach Ausdruck. Eine alltagsrelevante Praxis, die mein Leben mitbestimmt. Lebendig sollte dieses Musizieren sein, genauso wie das Unterrichten. Denn Jazz und improvisierte Musik werden aus dem Moment heraus geboren. Wir müssen uns technisch, musisch empfindend und in Musik denkend darauf vorbereiten, das Ungeplante, das Unvorhergesehene (lat. improvisus) geschehen lassen zu können.
Auf der Bühne zu spielen bedeutet, Musik zu behaupten, zu erfinden, zu improvisieren, auf die MitspielerInnen einzugehen. Wie kann das Unterrichten dann starr und festgelegt sein? Das Unterrichten selbst muss vielmehr behaupten, erfinden, improvisieren, um zu seinem Zweck, dem lebendigen Musizieren zu führen. Dabei möchte ich den Studierenden nicht inhaltlich Vorbild sein. Niemand soll so Schlagzeug spielen oder komponieren müssen, wie ich es tue. Vielmehr versuche ich, einfach das zu tun und zu leben, was ich im Unterricht einfordere: neugierig zu sein, zu spielen, forschen, ordnen, systematisieren, verwerfen, imaginieren und von einer innersten Musik zu träumen, die sich im Hörbaren manifestiert.

Verantwortlichkeit
Es liegt in meiner Verantwortlichkeit, mein Wissen über die Bedingungen einer musikalischen Existenz konkret zu vermitteln. Ich muss fachliche und technische, historische, stilistische sowie interpretatorische Aspekte lehren. Ohne diese gäbe es kein differenziertes Ausdrucksvermögen und keine instrumentalen Ausdrucksmittel, die einem professionellen Niveau entsprächen.
Weil die meisten AbsolventInnen sicherlich auch unterrichten werden, ist mir das Vermitteln pädagogischer Fertigkeiten ein großes Anliegen. Daher befasst sich mein Unterrichten immer auch mit der Beantwortung der Frage, wie das Üben individuell strukturiert werden kann, welche Inhalte zu welchem Zeitpunkt in welcher Form und in welchem Maße geübt werden sollten. Dabei gehen systematisches und diszipliniertes Voranschreiten auf ein Übeziel Hand in Hand mit beobachtendem, reflektierendem Hören, Empfinden und Nachdenken. Wenn die Studierenden ihr eigenes Tun sensibel erforschen, dann wird hoffentlich auch ihr Unterrichten den SchülerInnen den Raum eröffnen, sich nicht nur als Spieler, sondern auch als musikalische Persönlichkeit zu entwickeln.

Reality-Check
Es ist nicht immer leicht, als freiberuflicher Musiker zu existieren. Durchhaltevermögen, Geduld und Disziplin sind erforderlich. Darüber muss ich als Lehrender aufklären sowie über die Strukturen von professioneller Arbeit, z. B. Konzertorganisation, Produzieren eines Albums, technische Aspekte in der Studioarbeit, Arbeit mit Plattenlabels, das Schreiben von Anträgen, GEMA etc. Nach meiner Erfahrung wissen die wenigsten Studierenden etwas über diese Aspekte, weil diese Inhalte nicht in den Lehrplänen stehen und die Notwendigkeit der Beschäftigung mit ihnen während des Studiums noch lebensfern oder gar uninteressant wirken. Ohne diese Informationen kann aber der Schritt in die musikalische Selbstständigkeit ein steiniger sein.
Mir ist klar, dass ein Bachelor- oder Masterabschluss keine Garantie dafür ist, eine Stelle mit fest umrissenen Aufgaben zu erlangen. Verantwortlichkeit gegenüber den Studierenden bedeutet demnach auch zu vermitteln, dass das Schaffen eines Berufsumfelds in der Verantwortlichkeit der Studierenden selbst liegt.

Fazit
Das Unterrichten empfinde ich als Wechselspiel von empathischem Zuhören und pädagogischem Leiten. Als Lehrender habe ich den Anspruch, dem individuellen Forschen der Studierenden Raum zu geben und zwar jenseits meiner eigenen geschmacklichen Vorlieben. Dennoch muss ich in meiner Arbeit gewährleisten, dass das erforderliche professionelle Niveau als InstrumentalistIn erreicht wird. Es gibt Dinge, die ich als Hochschullehrer wissen, können und lehren muss. Aber ich muss die Studierenden auf die Suche schicken nach den Dingen, die nur sie finden können.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 3/2020.