Zybell, Wolfgang

Tätige Meditation

Über die spirituelle Dimension des Übens

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2021 , Seite 16

Üben ist ein sehr vielschichtiger Prozess. Begriffe wie Meditation, Spiritualität, Transzendenz und personales Reifen fallen im Zusammenhang mit Üben eher selten. Dieser Artikel beschäftigt sich mit einigen zu wenig beachteten Potenzialen des Übens.

Die Noten liegen auf dem Pult, gleich wird geübt. Es wird natürlich um die angemessene Umsetzung des Notentextes gehen, um musikalische Gestaltung, Intonation, Geläufigkeit: Als Musikerin und Musiker weiß man, was zu tun ist. Doch gestatten wir uns einen Moment des Innehaltens und schauen auf den Horizont, vor dem sich das Üben gleich vollziehen wird: Es ist der Horizont des Könnens. Üben zielt auf ein immer besseres Können – und wenn die Ansprüche wachsen, soll es absolutes Können sein, Perfektion. Doch kann es absolutes Können in der Kunst überhaupt geben?
Manch einer mag darin eine Verlockung sehen, muss aber in realistischer Einschätzung zugeben, dass dieser Grad an Perfektion nur von Maschinen erreicht werden kann. Im Horizont des lebendigen Subjekts kann es kein absolutes Können geben, denn der indivi­duelle Mensch als Einheit von Körper, Seele und Geist ist stets in der Entwicklung und ringt mit äußeren und inneren Widerständen. Die Idee des perfekten Könnens widerspricht dem Prinzip des Lebens und steht außerhalb der Zeit, an die unser Leben gebunden ist.
Wenn sich also der Horizont des quasi programmierten Könnens als zu eng erweist, weil er nicht auf den ganzen Menschen bezogen ist, müssen wir Üben anders bestimmen. Der anthropologisch relevante Gedanke lautet: Der Horizont des Übens ist das Subjekt als existenzielle Ganzheit. So verstanden ist dann Üben nicht ein Verfahren und Training, das bis an die Grenze führt, die der Körper setzt, sondern ein Verhalten, das den ganzen Menschen übt: Der tiefere Sinn des Übens ist die personale Reifung, die den Augenblick der Leistung überdauert. Dann steht auf dem Pult neben den Noten die Maxime des antiken Dichters Pindar: „Werde, der du bist!“

Mit tätiger Meditation sein Wesen verwirklichen

Beim wenig bewussten und auf das Motorische fixierten Üben ist man als Handelnder wenig wesentlich: Dem Wesen der Person ist es kaum möglich durchzudringen. Anthropologisch gesehen ist es dem Menschen auf­gegeben, in einem tiefgehenden Prozess der Reifung quasi die Maske abzulegen und das eigentliche Wesen immer deutlicher durchtönen zu lassen, also zur Persönlichkeit zu werden: „Person“ leitet sich ab vom lateinischen personare = hindurchtönen, nämlich der Stimme des Schauspielers durch seine Maske. Durch sein Wesen hat der Mensch teil an dem zeitlos Einen, am Absoluten und Unbedingten der überraumzeitlichen Wirklichkeit, das sich aber als bedingtes Vieles auf individuelle Weise in der Zeit mitteilt. Das Wesen ist das in doppeltem Sinn Währende, es ist fortwährend und gewährend. Es gibt sich zu erspüren als das lebendige Sein selbst.
Die Erfahrung der überrealen Wirklichkeit stellt zum einen eine Befreiung aus existenziellem Unheilsein dar, zum anderen ist sie eine Verpflichtung, der Transzendenz einen angemessenen Platz im Leben einzuräumen. Mit einem willentlichen Entschluss und auf direktem Weg kann dies aber nicht gelingen. „Das Individuum kann nicht wissen, was es ist, eh es sich durch das Tun zur Wirklichkeit gebracht hat.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) Mit dem Üben offenbart sich ein Weg, durch Selbsttranszendierung sein Wesen zu verwirklichen.
Wenn das Üben als „tätige Meditation“ (Jürgen Uhde) geschieht, kann es seine Tiefenwirkung entfalten und das Rad der Verwandlung drehen. Meditation hat nichts mit Passivität zu tun. Das lateinische meditari heißt schlicht (ein)üben. Meditation ist weniger ein rein geistiger als ein den Leib einschließender Vorgang, dessen Sinn nicht die Leistungssteigerung ist, durch die ein Können herauskommt, sondern ein Einüben einer inneren Haltung, sodass diese beständig hereinkommt. Wird das Üben als tätige Meditation praktiziert, so ist es in besonderer Weise geeignet, als „Existenzgrundlage“ zu dienen: Der Übende lebt auch dann mit der Haltung der inneren Sammlung, wenn er sie gar nicht bewusst übt, das heißt er kann die unmittelbare Übepraxis der Meditation verlassen, ohne dass sie ihn verlässt. Dies erhebt das meditative Üben zum quasi sakralen Vollzug, in dem einer Wirklichkeit gedient wird, die den Horizont des gewöhnlichen Bewusstseins übersteigt.

Der tiefere Sinn des Übens ist die personale Reifung, die den Augenblick der ­Leistung überdauert.

Aus der inneren Sammlung entspringt die Fähigkeit, im Augenblick ruhend und in Offenheit es geschehen zu lassen, konzentriert zu werden. Frei vom „vergoldeten Lärm des Lebens“ (Rainer Maria Rilke) geschieht beim Fokussieren und Sich-Vertiefen eine „Einsammlung alles Seins“ (Martin Buber).

Der Leib als Instrument der Persönlichkeit

Die innere Haltung der Sammlung spiegelt sich in der äußeren Haltung des Leibes. Die deutsche Sprache macht die feine Unterscheidung zwischen dem gegenständlichen Körper und dem zuständlichen Leib des beseelten Subjekts. Der Leib ist der Bereich der persönlichen Erfahrung: Er ist nicht nur das Instrument, das die Seele zur Verwirklichung braucht, sondern er ist ihre individuelle Verwirklichung. In ihm ist die persönliche Geschichte gleichsam archiviert. Da der Leib als das Lebendige und die Seele als das Belebende stets auf das engste aufeinander bezogen und ineinander gespiegelt sind, muss jeder Versuch, den Leib zum Körper zu objektivieren, scheitern. Die bloß körperliche Präsenz schließt ja die daseinsmäßige Anwesenheit nicht ein. Im Leib-Sein drückt sich der anwesende Geist der Person in einmaliger Weise aus. Und das Leib-Sein ist Voraussetzung für die Ausbildung individuell-konstanter Ausdrucksformen wie zum Beispiel einer persönlichen Tongebung (sie ist Intonation im eigentlichen Sinn).
Stets strahlt die Geistigkeit des Menschen in seine Leiblichkeit. Und der Geist gestaltet die ihn umgebende Welt durch die Vermittlung des Leibes: Der Leib ist das Instrument, mit dem sich der Mensch als Persönlichkeit ausdrückt. Selbstverständlich ist leibliches Üben nicht ganzheitlich in dem Sinne, dass keine Teilleistungen geübt werden; dadurch aber, dass sie in sich selbst nicht sinnlos sind und nicht ihre Bedeutung nur aus einem außerhalb ihrer selbst liegenden Ziel erlangen, und weil sie in der Verfassung der inneren Sammlung geübt werden, hat das Üben auch von Teilleistungen, das den Leib einbezieht, immer einen den Menschen als Persönlichkeit formenden Charakter, sodass es dem Übenden zunehmend gelingt, sich vom Wesen her zu äußern.

Die ungekünstelte Anmut des „Dornausziehers“

Die Manifestation der Vergeistigung des Leibes bzw. des verleiblichten Bewusstseins wird Weisheit des Leibes genannt. Die Gelöstheit und innere Freiheit, die wir am meisterhaften Spiel bewundern, beruht nicht auf einer antrainierten kollektiven Gleichschaltung der ausführenden Glieder, sondern auf einer spezifischen Freiheit und Intelligenz des Leibes. Beseelte Bewegungen stellen die Innerlichkeit ungebrochen und unmittelbar dar. Sie sind organisch und unwillkürlich, man kann sie nicht machen, man muss sie geschehen lassen. In der Spiritualisierung der Bewegungen übertrifft die Natur sich selbst, denn der Leib tut etwas, zu dem eigentlich nur der Geist fähig wäre: Er agiert absichtslos und mit Leichtigkeit aus sich selbst heraus. Solche von Willkür befreite Bewegungen zeichnen sich vor allem durch Anmut aus.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2021.