Richter, Christoph

Tanz oder Spiel?

Joseph Haydns „Menuetto“ aus dem Streich­quartett op. 77/2 als Anregung, Musik der Klassik zu verstehen und zu musizieren

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2010 , Seite 16

In der Komposition von Menuetten kommen die Besonderheiten und Reize der Wiener Klassik exemplarisch zur Geltung. Die Beschäftigung mit einem Menuett von Haydn gibt Einblicke in charakteristische Tech­niken und Interpretationsmöglich­keiten.

Der Begriff des Klassischen (das Klassische, klassisch) wird heutzutage vorwiegend in drei Bedeutungen gebraucht. Erstens als Bezeichnung für etwas Musterhaftes, Beispielhaftes, Besonderes, Hergebracht-Gültiges: ein klassischer Zweireiher, eine klassische Jeans, eine klassische Rede… Zweitens – ursprünglich auf die Verdeutlichung von Musiksparten in den Medien zurückgehend – als Unterscheidung und Abgrenzung zur U-Musik (die etwas grobe und fragwürdige Trennung in „U- und E-Musik“ hat sich seit Langem verfestigt). Drittens als Bezeichnung der Musik zwischen ungefähr 1760 und 1830. Mittlerweile sind die zeitlichen und stilistischen Gren­zen in der Musikgeschichtsschreibung aufgeweicht und durchlässig geworden: nach hinten zur Musik der Rokoko- und der Barockzeit, nach vorne zu jener der Romantik. Musik der (Hoch-)Klassik kann von romantischen Tendenzen bestimmt sein oder sie enthalten. Und selbst in Spätwerken der musika­lischen Klassik kann man rokokohafte oder gar barocke Elemente entdecken. Im folgenden Beitrag geht es um die dritte Bedeutung des Begriffs der musikalischen Klassik.

Der Tanz als Grundlage des Menuetts

Im Übergang von der Barock- und Rokokozeit zu jener musikalischen Epoche, die später gemeinhin „Musikalische Klassik“ genannt wurde, insbesondere in der Entwicklung von der Suite zur Sinfonie bzw. zu vergleichbaren mehrsätzigen Musikwerken, war umstritten, ob diese Werke drei oder vier Sätze umfassen sollten.1 Das galt auch für das Streichquartett.2 Nach vielen Experimenten, die die Zahl und die Art der einzelnen Sätze betrafen, wurde es zur Regel, den alten Tanz „Menuett“ als eine Reminiszenz an die Suite und die Welt der höfischen Tänze in die „klassischen“ Werke aufzunehmen. Von einigen Sinfonien und Streichquartetten Haydns an hießen diese Sätze entweder Menuetto oder Scherzo. Als Scherzi bekamen sie ein schnelleres Tempo und wurden von den Komponis­ten zu allerlei kompositorischen Experimenten genutzt. Auf diese Weise veränderten sie auch Charakter und Ausdruck. Im Falle des Menuetts entwickelte sich aus dem ehemals höfischen Tanz, der entweder mehr beschwingt oder eher etwas steif komponiert und vorgetragen wurde, ein Spiel mit dem und über das Menuett.
Die Aufgabe, ein solches „fortgeschrittenes“ Menuett oder Scherzo zu verstehen und angemessen zu interpretieren, heißt also, dieses neuartige Spiel zu verdeutlichen und gleichzeitig die „Ruinen“ der aus dem Hintergrund durchschimmernden Tanzreste wahrnehmbar zu machen. Diese Aufgabe versuche ich am Menuett aus Haydns Streichquartett op. 77 Nr. 2 zu konkretisieren.

1 siehe hierzu Stefan Kunze: Die Sinfonie im 18. Jahrhundert (Handbuch der musikalischen Gattungen, Band 1, hg. von Siegfried Mauser), Laaber 1993, S. 270-275.
2 Literatur zum Streichquartett und seiner Entwicklung: Reclams Kammermusikführer, hg. von Arnold Werner-Jensen, Stuttgart 1990 (10. Auflage); Friedhelm Krummacher: Das Streichquartett, Laaber 2001 (Handbuch der musikalischen Gattungen, Band 6,1); Ludwig Finscher: Die Entstehung des klassischen Streichquartetts, Kassel 1974; Ludwig Finscher: Joseph Haydn und seine Zeit, Laaber 2000, S. 423-426.

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