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Wüstehube, Bianka

Thinking ­outside the box

Nachdenken über die eigene Identität im Musikstudium

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2018 , Seite 10

Interdisziplinäre Musiziergelegen­heiten im Institut für Musikpäda­gogik an der Bruckneruniversität in Linz, die bei der künstlerischen Expertise der Studierenden ansetzen, geben ihnen die Möglichkeit, biografische Einflussfaktoren künstlerisch zu thematisieren. Sie regen an zum Nachdenken über den eigenen biografischen Hintergrund und zu einem bewussten Umgang damit. Sie eröffnen die Chance, über den eigenen Tellerrand zu schauen, und haben den Anspruch, Diskursfähigkeit und die Bewusstwerdung und Veränderung der mitgebrachten Haltung zu fördern.

Jeweils zum Studienbeginn im Oktober verbringen etwa 50 StudienanfängerInnen im Fach Instrumental-/Gesangs­pädagogik (IGP) gemeinsam eineinhalb Tage in der Landesakademie Schloss Weinberg in Oberösterreich. In dieser schönen Atmosphäre lernen sie sich kennen, musizieren miteinander, berichten sich gegenseitig von ihren Erfahrungen, diskutieren und reflektieren und setzen sich mit den grundlegenden Themen ihres Studiums auseinander. Aber obwohl das Studium gerade erst beginnt, sind die StudienanfängerInnen in ihrem jeweiligen künstlerischen Hauptfach schon ExpertInnen. Anders als in anderen Studienrichtungen haben unsere Studierenden bereits eine Aufnahmeprüfung bestanden, in der nur die Allerbesten zum Studium an der Kunstuniversität zugelassen werden.
Fast alle musizieren seit Kindheitstagen, einige haben an Musikwettbewerben teilgenommen oder in Jugendorchestern mitgespielt. Und um dort mitspielen zu dürfen, mussten sie Probespiele bestehen und sich dem erheblichen Konkurrenzdenken stellen: Immer war eine Höchst­leistung zu erbringen und Exzellenz gefordert. Andere haben intensiv Bandarbeit betrieben und versucht, Enga­gements zu bekommen. Jedenfalls haben alle ausgiebig geübt und sich jahrelang intensiv auf die Zulassungsprüfung vorbereitet.
Die Studierenden haben also beträchtliche, wenn auch individuell höchst unterschied­liche Erfahrungen als Inst­rumental- und GesangsschülerInnen, zudem ist das Thema „Musizieren“ sehr emotional besetzt. Sie wissen bereits, worauf es fachlich ankommt, und verfügen über einen diesbezüglichen Erfahrungsschatz, der genutzt werden kann. Allerdings hat in vielerlei Hinsicht vor allem ­eine unbewusste Prägung stattgefunden: Werthaltungen haben sich ebenso herausgebildet wie subjektive Theorien über Lernen und Unterricht. Aus der Forschung zur Lehrerbildung wissen wir, dass diese „mitgebrachten“ Vorerfahrungen und Überzeugungen das Handeln von Lehrenden beeinflussen oder sogar dominieren. Unbewusst und wie selbstverständlich wählen angehende Lehrende Methoden und Inhalte aufgrund ihrer Vorerfah­rung aus, und auch die Wahrnehmung und die Interpretation von Verhaltensweisen von SchülerInnen und das daraus folgende Handeln und Beurteilen wird durch die Eigenerfahrung beeinflusst.1

Musikuniversität als „Sonderschule“?

Aber nicht nur die Erfahrungen vor dem Studium prägen ihre Überzeugungen. Auch im Studium werden ihre Wert­haltungen vor allem durch den Unterricht im zentralen künstlerischen Hauptfach geprägt, liegt doch hier in besonderem Maße der Exzellenzgedanke zu Grunde. Nach dem Auswahlverfahren zu Beginn des Studiums bereiten sich die Studierenden im Hauptfacheinzelunterricht im Grunde vier Jahre auf ein solistisches Abschlussprogramm für die große Bühne vor. Das zu erreichende Niveau ist durch die Vorgabe von zu spielenden Werken definiert, die Möglichkeit zur individuellen Auswahl der Werke eingeschränkt: Man spielt das, was der Professor oder die Professorin vorschlägt. Ziele sind ein technisch fehlerfreies virtuoses Spielen oder Singen, im klassischen Bereich die adäquate Ausführung großer Meisterwerke und im Jazzbereich das perfekte musikalische Agieren in verschiedenen Stilrichtungen.
Zudem sind Studierende an der Musikuniversität durch einen bestimmten Umgang mit Kultur und gewisse Vorstellungen von „legi­timem“ Musikgeschmack geprägt, stammt doch der größte Teil von ihnen aus einer mittleren bzw. gehobenen Schicht.2 Pierre Bourdieu beschreibt klassenspezifisch erworbene Weltsichten, unbewusste Verhaltensmuster und Einstellungen als Habitus. Wesentliche Elemente dieses Habitus gleichen denen der „Klassengenossen“. Der Habitus hat einen massiven Einfluss auf das Handeln der Person und bestimmt ihr Agieren im sozialen Feld der Künste, vor allem wenn es um Konflikte geht.
Ebenso wie die Studierenden durchlaufen auch die Lehrenden der zentralen künstlerischen Fächer strenge Auswahlverfahren, um an einer Kunstuniversität unterrichten zu dürfen. Zugleich stehen sie als MusikerInnen im Rampenlicht. So ist die zuspitzende Frage des Inklusions­forschers Gerd Feuser, ob nicht gerade eine Musikuniversität, an der sich die künstlerische Elite versammelt, als „Sonderschule“ zu bezeichnen sei,3 sicher berechtigt.

1 vgl. Eveline Christof/Julia Köhle/Katharina Rosenberger/Corinne Wyss: Mündliche, schriftliche und theatrale Wege der Praxisreflexion. Beiträge zur Professionalisierung pädagogischen Handelns, hep-Verlag, Bern 2018.
2 Die Studierenden-Sozialerhebung der Anton Bruckner Privatuniversität ergab 2015, dass 29 % der Studierenden aus der mittleren und 50 % aus der gehobenen Schicht kommen. 56 % ihrer Eltern haben ­einen Hochschulabschluss; vgl. Sarah Zausinger/Julia Brenner/Andrea Precup: Studierenden-Sozialerhebung 2015. ­Tabellen Anton Bruckner Privatuniversität, Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft, Wien 2017.
3 Georg Feuser: Grundlegende Momente der Aus-Bildung für eine ­inlusionskompetente Pädagogik. Vortrag bei der 12. Fachtagung für inklusives Musizieren an der Universität für Musik und Darstellende Kunst, Wien 2017.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2018.