Liedtke, Ulrike

Üben – Musizieren – Aufführen

Ausgewählte Beispiele zur Arbeit der Musikbildungsstätten in Deutschland

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2000 , Seite 14

Ausgewählte Beispiele zur Arbeit der Musikbildungsstätten in Deutschland

Dr. Ulrike Liedtke ist Geschäftsführerin und Künstlerische Leiterin der Musikakademie Rheinsberg und Leiterin des “Arbeitskreises der Musikbildungsstätten in Deutschland”.

Spannend für alle MusikerInnen ist der schöpferische Prozess des Musikmachens, auch des Theaterspiels, also mehr die Entstehung als das fertige, vorführreife Stück. Dieser Prozess läuft tagtäglich an Musikbildungsstätten ab, fern der Öffentlichkeit. Wenn “der Weg zu allem Großen durch die Stille” führt, wie Gottfried Keller sagte, gilt das programmatisch auch für die Musikakademien. Ihre Häuser stehen in kleinen Städten, meist auf historischem Boden, ein bisschen auswärts von Raum und Zeit. Sie bieten Kurse zu ausgewählten musikalischen Themen an, Weiterbildungen, Proben- und Arbeitsphasen für Laien- und Berufsmusiker, immer auch für Pädagogen und solche, die es werden wollen. Jeder Kursteilnehmer reist mit Sack und Pack, mit Noten, Büchern und Instrumenten in der Bildungsstätte an – ein Ausstieg aus dem Alltag zur Konzentration auf – ja, in der Tat – auf Üben und Musizieren. Die Akademien verfügen über Probenräume unterschiedlicher Größe. Man wird ganztägig von guten Küchengeistern umsorgt und wohnt meist in Zweibettzimmern, allerdings ohne Fernseher, Telefon und Fax, Dinge, die man auch erstaunlich schnell vergisst.

Allein die Teilnehmertage der Musikbildungsstätten in Deutschland dokumentieren eindrucksvoll, wie viele MusikerInnen ganz unterschiedlicher Altersgruppen, Genres und Leistungsniveaus jährlich die Akademien durchlaufen: ca. 20000 in der Landesmusikakademie NRW Burg Nienborg, ca. 25000 in der Musikalischen Bildungsstätte Schloss Weikersheim, ca. 5500 im ersten halben Arbeitsjahr der Bayerischen Musikakademie Schloss Alteglofsheim, ca. 10000 in der Landesmusikakademie Berlin, ca. 10000 in der Bundesakademie Trossingen, ca. 9000 in der Bayerischen Musikakademie Hammelburg, ca. 4000 in der Villa Musica Mainz, ca. 6500 in der Bundesakademie Wolfenbüttel, ca. 14000 im Nordkolleg Rendsburg, ca. 20000 in der Bayerischen Musikakademie Marktoberdorf, ca. 14000 in der Musikakademie Kürnbach, ca. 15500 in der Musikakademie Rheinsberg und – der Spitzenreiter – ca. 32000 in der Landesakademie für die musizierende Jugend in Baden-Württemberg Ochsenhausen. Freilich sind die Teilnehmertage abhängig vom Akademiekonzept und von der Aufnahmefähigkeit des jeweiligen Gästehauses, somit also nicht miteinander vergleichbar. Alle Akademien mit höheren Besucherzahlen weisen darauf hin, dass nun ihre Kapazität ausgeschöpft ist, mehr Betten, mehr Personal, mehr Kurse können nicht angeboten werden. Es boomt an den Musikbildungsstätten!

Die große Nachfrage nach intensiver musikalischer Arbeit im Kurs greifen private Anbieter auf, was bundesweit zu einer Inflation an Kursangeboten führt. Die AkademiedirektorInnen mussten über ein “Gütesiegel” für ihre Kurse nachdenken, um unterscheidbar zu bleiben. Also treffen sie sich jährlich im “Arbeitskreis der Musikbildungsstätten in Deutschland” und treten in der Öffentlichkeit gemeinsam per Internet unter dem Deutschen Musikrat auf, präsentieren ihre Einrichtungen auf Plakaten und in einer Broschüre “musikerfahren!”. Aufgabe des Arbeitskreises ist es, untereinander Erfahrungen sowohl in der Umsetzung inhaltlicher Programme wie der institutionellen Führung der jeweiligen Häuser auszutauschen. Mitglieder des Arbeitskreises sind Landesakademien, Bundesakademien und andere nicht kommerzielle, öffentlich geförderte Einrichtungen für musikalische Fortbildung.

Der “Arbeitskreis der Musikbildungsstätten in Deutschland” (Mitglied im Deutschen Musikrat) vereint 18 Akademien, deren Titel oft schon den Arbeitsschwerpunkt beschreiben. Bundesakademien sind die Akademie Remscheid für musische Bildung und Medienerziehung, die Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel und die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen. Es gibt fünf Landesakademien in Bayern (Hammelburg, Marktoberdorf, Alteglofsheim, Festival junger Künstler Bayreuth, Musikbegegnungsstätte Haus Marteau in Lichtenberg) und vier in Baden-Württemberg (Landesakademie für die musizierende Jugend in Ochsenhausen, Musikakademie Kürnbach – Ausbildungsstätte des Blasmusikverbandes, Musikalische Bildungsstätte Schloss Weikersheim, Internationale Musikschulakademie Kulturzentrum Schloss Kapfenburg), außerdem die Landesmusikakademien NRW Burg Nienborg-Heek, Berlin, Rheinland-Pfalz, die Villa Musica in Mainz, das Nordkolleg Rendsburg und die Musikakademie Rheinsberg. Gegenwärtig stellen die Akademien ihre Leistungsprofile zusammen. Längst nicht alle Pläne konnten bisher ausgewertet werden, ausgewählte Beispiele verdeutlichen die unerwartete Fülle an musikalischen Leistungen durch Akademien in den einzelnen Bundesländern.

Eigenes Kursangebot

Jede Akademie entwickelt ihr eigenes Kursangebot und findet im Laufe der Zeit zu ganz speziellen Schwerpunkten. Die Landesmusikakademie NRW Burg Nienborg z. B. bietet Seminare, Workshops zur Fort- und Weiterbildung von LaienmusikerInnen, MusikpädagogInnen und zur musikalischen Begabtenförderung an. Darüber hinaus hat sie sich zur Landeszentrale für die Durchführung der Qualifizierungslehrgänge zur Laienmusik in NRW auf der Basis einer landesweit gültigen Lehrgangsordnung entwickelt. An der Bayerischen Musikakademie Marktoberdorf kann die Prüfung für “Staatlich anerkannte Dirigenten in der Laienmusik” abgelegt werden, internationale Sommer-Seminare gelten der Musik für Gitarre, Schlagzeug, Orgel, Akkordeon und andere Instrumente sowie dem Chorwerk. Die Akademie führt auch den Landeswettbewerb “Jugend jazzt” durch. Die Bayerische Musikakademie Schloss Alteglofsheim hingegen versteht sich als Kommunikationszentrum und Impulsgeber für die ostbayerische Region und bietet Kurse an zu Musik und Sport, Musik und Gesundheit, Musik und neuen Medien oder Musik im dritten Lebensalter. Die Landesmusikakademie Berlin setzt Prioritäten auf Musikpädagogik, Körperarbeit und Laienmusik mit Angeboten zur Elektronischen Klangerzeugung, Populären Musik, Rhythmik und Perkussion. Das Festival junger Künstler Bayreuth veranstaltet Workshops für Komposition, Kammermusik, Perkussion, Klavier, Musiktheater und Literatur, in Seminaren gibt es ein “Training Kulturmanagement”. Die Landesmusikakademie Rheinland-Pfalz widmet sich Musik mit Behinderten und arbeitet außerdem zusammen mit dem Landesmusikgymnasium Montabaur. Kammermusikkurse führt die Villa Musica Mainz durch und ermittelt im Probespiel Stipendiaten, die dann gemeinsam mit den Dozenten musizieren; Spezialkurse widmen sich dem Gesang und der Liedinterpretation. Die Landesakademie Ochsenhausen gibt laut Stiftungssatzung folgenden Aufgabenkatalog vor: Arbeitstage und Probewochen für Jugend-/Schulchöre und -orchester, Lehrgangsarbeit in der Jugend- und Schulmusik, Arbeitsphasen für besonders qualifizierte Jugendensembles des Landes Baden-Württemberg, Aus- und Fortbildung von Leitungskräften in der Musikerziehung, Tagungen, internationale Jugendbegegnungen, Arbeitstage und Probenwochen für Liebhaberorchester, Dokumentation und Archivierung des aktuellen musikalischen Schaffens. Besondere Ausstrahlung besitzen die Internationalen Projekte, z. B. IRO und C.H.O.I.R., Chorwettbewerbe mit den Sängerbünden oder das Gottlob-Frick-Opern-Projekt (Wettbewerb, Kurse, Konzerte). Die Musikalische Bildungsstätte Schloss Weikersheim führt Kammermusikkurse für Schüler und internationale Ensembles durch, ebenso Probespieltraining, Mentales Training, Treffen junger Komponisten und internationale Opernkurse. Open air-Aufführungen der Opernkurse finden im zweijährigen Turnus statt, Abschlusskonzerte der Kurse gibt es mit Aufführungen im Schlosshof.

Eigene Konzertsäle

Die Akademien verfügen über eigene Konzertsäle oder nutzen historische Räume für ihre Aufführungen. Veranstaltungen in der jeweiligen Region stellen die Ergebnisse aus Arbeitsphasen vor – das Festival der Laienmusik, Samba Syndrom, Kinderliedfestival und jährlich rund 100 Schülerkonzerte der Landesmusikakademie Berlin, das Festival junger Künstler Bayreuth mit ca. 70 Veranstaltungen jährlich im August, ca. 170 Kammerkonzerte jährlich und Open Air-Konzerte auf Schloss Engers, Sommerfestival Musik in Burgen und Schlössern durch die Villa Musica Mainz, nationale und internationale Jahresprojekte (Projekttage Alte Musik, Opern- und Oratorienproduktionen, Klezmer Festival, Eurotreff West, Jazzfestivals, Akademiechor u. a.) der Landesmusikakademie NRW, ca. 40 Konzerte in zwei Konzertsälen, Kammermusikreihen und die Beteiligung “Orgelsommer Ochsenhausen” durch die dortige Landesakademie. Die Aufzählung ließe sich eindrucksvoll für jede der Akademien fortsetzen.

Publikationen

Publikationen fassen Ergebnisse aus den jeweiligen Kursen zusammen. Alle Akademien werben mit ihrem Standort und gegebenenfalls mit dessen musikgeschichtlicher Bedeutung, alle geben CDs mit herausragenden Mitschnitten oder Musikproduktionen heraus. Nicht zu unterschätzen sind die jeweiligen Bibliotheksbestände und Notenarchive an den Akademien, ausgerichtet nach dem Profil des Hauses. Auch die technischen Ausstattungen mit Ton- und Videostudios überraschen. Natürlich halten die DirektorInnen Vorlesungen auch an Musikhochschulen und Universitäten, und mancher Akademiemitarbeiter hat sich auf seinem Spezialgebiet durch eigene Publikationen einen Namen gemacht. Zu wenig wird dieses Fachwissen in Gremien des deutschen oder internationalen Musiklebens genutzt, zu wenig ist auch im Bewusstsein, dass ein Direktor durch tägliche Begegnungen mit Verbänden und Vereinen, Schulen, Hochschulen und Musikschulen zu einem ganz besonderen Kenner der Musikkultur des Landes geworden ist. Ein Beispiel: Die Musikakademie Rheinsberg

Der Paukenschlag eines besonderen Musikereignisses hallt nur kurz nach, die kontinuierliche musikalische Arbeit über Jahre hinweg bedarf eines zwischen Erwartungen und Möglichkeiten abgestimmten Konzepts. Was also will und kann die Musikakademie konkret in Rheinsberg leisten und wo liegen ihre Grenzen? Die Rheinsberger Schlossanlage weist kleingliedrige Strukturen auf. Hier gab es den kleinen prinzlichen Hofstaat, weniger Etat als in Berlin und Potsdam, also auch das kleine Theater ohne Schnürboden, Hinterbühne und Versenkung. Auch wenn Prinz Heinrich gern über seine Verhältnisse lebte, gelangen seinen Künstlern eher die kammermusikalischen Aufführungen, die Maskeraden, die Sing- und Schauspiele, die kleinen Opern und die vielfältigen theatralischen Spielformen. Ganz offensichtlich spielte er große Opern nicht in der Originalbesetzung, passten doch die entsprechenden Musiker gar nicht in den für sie vorgesehenen Orchestergraben hinein. Auch zweihundert Jahre nach Prinz Heinrich bietet sein Theater – wieder erbaut und am 30. Dezember 1999 eröffnet – beste Voraussetzungen für Ensemblekunst im kammermusikalischen Bereich, für szenische Aktionen und Kammeropern.

Das widerspricht dem gegenwärtigen allgemeinen Trend zur musikalischen Großveranstaltung, etwa den Konzerten der drei Tenöre über Lautsprecher und Bildwände im Stadion, es widerspricht der Gründung großer Weltorchester für nur einen Auftritt, die trotz hervorragender einzelner Künstler nie einen spezifischen Orchesterklang entwickeln können, weil dafür keine Zeit bleibt. Es widerspricht auch der Alltagsdroge Musik, im Büro oder im Fahrstuhl, einfach überall – Musik, die nicht “gehört” wird. Gut studierte Musik und ausgewählte, durchdachte Programme bedürfen der intensiven Arbeitszeit und Stille, manchmal auch der Experimente, die äußerlich vielleicht ergebnislos ausgehen, aber erfahren werden mussten. Das schließt Uraufführungen ein, deren Akzeptanz ungewiss ist.

Die Kurse der Musikakademie Rheinsberg, durchgeführt in der Nähe großer Musikhochschulstädte wie Hamburg, Berlin, Leipzig und Dresden, bieten an, was die Musikhochschulen nur begrenzt unterrichten können: das Musizieren im kammermusikalischen Spezialensemble. Noch immer arbeiten die meisten Musikstudierenden auf eine Anstellung im großen Orchester hin, getreu dem philharmonischen Gedanken des 19. Jahrhunderts. Die gesellschaftliche Entwicklung steuert jedoch auf eine Musikkultur der wenigen, hervorragenden Orchester zu. Damit tut sich zugleich für kleine Ensembles mit speziellem Repertoire eine Chance auf. Während im 19. Jahrhundert wesentliche musikgeschichtliche Entwicklungen nur mit dem großen sinfonischen Orchester darstellbar waren, verbindet Ensemblekunst die Zeit davor und danach. Die Vergleiche zwischen der Musizierkunst des 18. und des 20. Jahrhunderts verblüffen, je mehr man sie bemüht.

Damals wie heute interessierten die kleinen Besetzungen und die damit verbundene bewusste Durchsichtigkeit des jeweils neuen Klanges. Der individualisierte Musiker, berühmt für seine ganz besondere Art der Interpretation und meist auch Improvisation, steht heute wieder im Blickpunkt des zeitgenössischen Musikinteresses. Komplizierte Notationen wie Ausführungsvorschriften und exzeptionelle Spielweisen gilt es zu studieren, um die Stücke im Verständnis ihrer (lebenden) AutorInnen zu interpretieren. Längst haben sich innovative Underground-Szenen der Alten und der Neuen Musik mit jeweiligen Spezialensembles gebildet. Die Musikakademie Rheinsberg reagiert auf diese Entwicklung mit Meisterkursen, großen Musik-Werkstätten zu Ostern und zu Pfingsten einschließlich der wissenschaftlichen Kolloquien zur Musik des 18. und 20./21. Jahrhunderts.

Die Aufgabe der Akademie besteht nun darin, ihre Kurstätigkeit mit der Veranstaltungstätigkeit im Schlosstheater Rheinsberg zu verbinden. Die jeweils besten Kursteilnehmer treten im Ergebnis ihrer Arbeitsphase im Theater auf, ganz gleich, ob es sich um einen konzertanten Interpretationskurs oder um die Einstudierung einer szenischen Aufführung handelte. In einem solchen Kurs- und Veranstaltungsprogramm wird der weltweit gefragte Künstler zum Dozenten als Vermittler seines Könnens und Wissens – auch wenn er es sich nicht nehmen lässt, gelegentlich selbst zu musizieren.

Aus rund 100 öffentlichen Konzerten, sieben szenischen Eigenproduktionen und zehn Gastspielen mit nochmals rund 30 Aufführungen entsteht das Veranstaltungsprogramm. Die Planung von Meisterkursen, Werkstätten und Arbeitsphasen von Chören, Orchestern und Theatergruppen hat so zu erfolgen, dass die zu Kursen angereisten Akademiegäste zugleich die in musikalischen Veranstaltungen der Akademie auftretenden Künstler sind. Quantität und Qualität der so entstehenden musikalischen Darbietungen wären von der Stadt, dem Landkreis oder der Schlösserstiftung nicht finanzierbar. Die Musikakademie Rheinsberg wird institutionell gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg. Diese Förderung finanziert die Stellen der Akademiemitarbeiter (1) und einen Teil der Bewirtschaftungskosten; alle anderen Ausgaben sind durch Einnahmen zu decken. Auch dieses Finanzierungsmodell geht von der engen Verknüpfung der Kurse und Veranstaltungen aus. Noch immer ist die Musikakademie Rheinsberg die erste und einzige Musikakademie in den neuen Bundesländern und versteht sich seit ihrer Gründung 1991 als länderübergreifend arbeitende Institution zur Förderung junger Musikerinnen und Musiker.

Ein Betreibervertrag vom 10. Juni 1997, geschlossen zwischen der Stadt Rheinsberg und der Musikakademie Rheinsberg über den Betrieb des Veranstaltungszentrums Rheinsberg, regelt seit dem 1. Januar 2000 die Rechte und Pflichten der Theaterbetreiberin. Dabei gehören zum Veranstaltungszentrum neben dem Schlosstheater Rheinsberg auch das historische Kavalierhaus als Probenstätte und das neu erbaute Künstlerhaus (mit Schaffrath-Saal, Tonstudio, 40 Gästezimmern und eigener Küchenversorgung). Zusätzlich schloss die Musikakademie Rheinsberg am 30. Januar 1999 mit der Kammeroper Schloss Rheinsberg eine Vereinbarung, die die Bespielung des Theaters über das Jahr durch die Musikakademie und für acht Wochen im Sommer durch die Kammeroper Schloss Rheinsberg festlegt. In der schönsten Zeit des Jahres wird die eigenständige GmbH Kammeroper Schloss Rheinsberg neben den Freiluftveranstaltungen ihres Opernfestivals künftig auch das Theater als Spielstätte einbeziehen. Musikakademie Rheinsberg und Kammeroper Schloss Rheinsberg verbindet gleichermaßen das Anliegen, junge Künstler zu fördern.

Natürlich fährt man nach Rheinsberg wegen des kronprinzlichen Schlosses von Friedrich II. – kunstgeschichtlich oft als “das kleine Sanssouci” bezeichnet. Hier trafen sich vor 250 Jahren junge Baumeister, Maler, Bildhauer und Musiker, der Prinz schrieb im Turmzimmer den Antimachiavell und Briefe an Voltaire. Allein schon die Neugier zwingt den Musiker, nach Noten aus dieser für den musizierenden Prinzen und sicher auch für seinen Hofstaat noch unbeschwerten Zeit zwischen 1736 und 1740 zu stöbern. Eine ganz andere musikgeschichtliche Phase, theatralisch und prunkvoller, beginnt mit dem Wirken des Theatermannes Prinz Heinrich 1763 in Rheinsberg. Die Rheinsberger Musikgeschichte blieb bis 1991 weitgehend unbekannt. Forschungsarbeiten von Musikern und Musikwissenschaftlern an der Musikakademie Rheinsberg und an den mit ihr kooperierenden Institutionen entdecken seither Kompositionen aus der Zeit der Rheinsberger Hofkapelle des Kronprinzen Friedrich und die Theaterspiele des Prinzen Heinrich.(2) Das Image einer Experimentierwerkstatt Rheinsberg erweist sich auf Dauer als beständiger als ein perfekt vorbereitetes und durchgeführtes “Event”, dessen Gelingen und Besucherakzeptanz von zahlreichen Zufällen abhängen. Der oft beschworene “Rheinsberger Geist”, vielleicht auch der “Zauber” des Märchenschlösschens, lehrt Glaubwürdigkeit und Qualität nicht als Tagesgeschäft.

Die jeweiligen Forschungsarbeiten an der Musikakademie Rheinsberg bilden die Grundlage für zwei historische und eine heutige Programmschiene im neuen Theaterkonzept:

– Europäische Hofkapellmusik des 18. Jahrhunderts, ausgehend von Urtext-Ausgaben und aufführungspraktischen Einrichtungen der Kompositionen von Mitgliedern der Rheinsberger Hofkapelle von Friedrich II.; – Musiktheater des 18. Jahrhunderts mit dem Schwerpunkt auf der Theaterzeit des Prinzen Heinrich und seinen Kontakten zu anderen europäischen Theatern, gekoppelt mit aufführungspraktischen Einrichtungen in Vergessenheit geratener szenischer Werke der Prinz-Heinrich-Zeit; – Musik des 20. und 21. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung zeitgenössischer Musik.

Bei aller Offenheit gegenüber musikalischen und theatralischen Genres und Formen verhindert die Konzentration auf Musik des 18. und 20./21. Jahrhunderts – im GmbH-Vertrag der Musikakademie bereits 1993 festgeschrieben – ein “Gemischtwarenangebot” ohne erkennbare Spezifik. Was also erwartet den Theater- und Konzertbesucher im Schlosstheater Rheinsberg? An jedem Wochenende Musik oder Theater. Man kann also auf gut Glück nach Rheinsberg fahren, vom Meisterkurs- oder Chorkonzert bis zur Opernaufführung oder szenischen Aktion mit Neuer Musik wird immer etwas auf dem Spielplan stehen. Bis zum vollständigen Einbau der Veranstaltungstechnik zu Ostern gab es an jedem Wochenende Konzerte: Abschlusskonzerte von Meisterkursen, unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Berliner Piano-Haus Steinway & Co. und Menahem Pressler als Dozent, Preisträgerkonzerte von internationalen Wettbewerben für junge Künstler, ein Gastspiel der Palucca-Schule für Tanz in Dresden, Orchesterkonzerte mit dem Kinderstreichorchester Jeunesses Musicales und dem Landesjugendsinfonie- und Jazzorchester sowie Veranstaltungen des literarischen Rheinsberger Salons. Extra für Konzerte der Alten Musik gründete sich die Rheinsberger Hofkapelle 2000. Junge MusikerInnen aus Bremen ließen sich vom Hofkapell-Fieber in Rheinsberg anstecken und musizieren wie einst bei Friedrich II.: in originaler Kapellbesetzung mit sechzehn Musikern, auf alten Instrumenten und in historischen Kostümen. Den Titel Rheinsberger Hofkapelle, verbunden mit mehreren Auftrittsmöglichkeiten im Schlosstheater, vergibt die Musikakademie künftig jedes Jahr neu an ein junges Spezialensemble für Alte Musik, das Kompositionen aus der Hofkapellzeit in sein Repertoire aufnimmt. Ganz der Rheinsberger Musikgeschichte verpflichtet, bot die Oster-Festwoche täglich szenische und konzertante Veranstaltungen zur Musik am Rheinsberger Hof des 18. Jahrhunderts einschließlich der Wiederentdeckung der 1782 im Theater des Prinzen Heinrich uraufgeführten Opéra comique Die Fee Urgèle von Johann Abraham Peter Schulz. Die Pfingst-Festwoche zur Neuen Musik wartet mit zwei szenischen Uraufführungen auf, die zugleich Auftragswerke der Musikakademie Rheinsberg sind: Lilith von Helmut Zapf nach einem Libretto von Kerstin Hensel und L’homme machine – Der Maschinenmensch nach Texten von La Mettrie, komponiert von Georg Katzer. Insgesamt sechzehn Veranstaltungen innerhalb der Festwoche dokumentieren unterschiedliche Kompositionsverfahren der heutigen Musik, unter anderem mit dem Isang Yun Ensemble Berlin, mit Vollicht aust es sa von Josef Anton Riedl aus München, Alf Rogge und seinem unkonventionell-frisch improvisierenden Galuschke-Ensemble, mit dem sächsischen Ensemble Musica Temporale und Sigune von Osten. Ruth Zechlin wird eigene neue Orgelwerke spielen, René Hirschfeld stellt seine Musik in ein Verhältnis zur Musik von Johann Sebastian Bach, Frank Immo Zichner und Frank Gutschmidt richteten sich Igor Strawinskys Le Sacre du printemps von 1913 als Stück für Klavier zu vier Händen ein und stellen ihre Interpretation gemeinsam mit vier Tänzerinnen vor. Daneben gibt es Video-Projekte der Berliner Akademie der Künste und den Stummfilm Dr. Marbuse in einer musikalischen Version des Exzentrischen Filmorchesters. Von besonderem Interesse für das Publikum sind meist die kombinierten Programme aus Alt und Neu, die Abschlusskonzerte der Meisterkurse für Flöteninstrumente aus dem 18. und 20. Jahrhundert mit entsprechend unterschiedlicher Literatur aus verschiedenen Klangwelten (Dozenten 2000: Karlheinz Zoeller und Carin Levine, Querflöte; Dorit Wocher, Blockflöte). “Saitenklänge” bietet ein gemeinsames Projekt der beiden Meisterkurse für Lautenisten und Gitarristen mit den Dozenten der Lautten Compagney Berlin Werner Apel und Wolfgang Katschner, Klaus und Rainer Feldmann. Klaus Feldmanns Komposition dann und nur dann, wenn stellt in drei Teile aufgesplittet den Rahmen für eine szenische Darstellung mit Video-Projektionen, Pantomimen und Materialspiel. Hier hält die Neue Musik mit Selbstverständlichkeit Einzug in das ganz verschieden geprägte Repertoire der Lautenisten und Gitarristen.

In Piano of Light, viel diskutiert in den jährlichen Meisterkursen zur Neuen Klaviermusik mit Jeffrey Burns, erzeugt ein computerisierter Flügel visuelle Abläufe und lässt ein multimediales Ereignis entstehen. Gastspiele verschiedener Theater sind angekündigt und im Sommer findet das Opernfestival der Kammeroper Schloss Rheinsberg statt. Zahlreiche Konzerte runden das Programm ab, so dass auch während der Probenzeiten für die großen szenischen Aufführungen an jedem Wochenende Musik und Kultur in Rheinsberg erlebbar bleiben. Es gibt spezielle Schülerkonzerte, traditionsgemäß die Rheinsberger Musiktage zu Pfingsten und regionale Theaternutzungen. Bei allein 130 Akademie-Veranstaltungen im Plan 2000 werden auch die Stadt Rheinsberg und der gesamte Landkreis Ostprignitz-Ruppin von dem Theaterbetrieb und seinen Besuchern profitieren, erweist sich doch eine Kultureinrichtung als Wirtschaftspartner in der Region. Für geschlossene Veranstaltungen wird das Theater vermietet, um mit den eingenommenen Geldern wieder junge Künstler fördern zu können.

Natürlich gibt es auch Pläne für die nächsten Jahre: 2001 stehen die historischen Verbindungen des Rheinsberger Hofes zu anderen musikalisch interessanten europäischen Höfen im Mittelpunkt der Oster-Festwoche zur Alten Musik, ebenso die heutigen Kontakte zu den jeweiligen Städten in der Pfingst-Festwoche zur Neuen Musik. Für 2002, das 200. Todesjahr des Prinzen Heinrich, werden gemeinsam mit der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg verschiedene Heinrich-Festivitäten geplant. Ideen gibt es genug, über Jahrhunderte hinweg. Wie vor zweihundert Jahren erlebt der Besucher das Theater der Rheinsberger Schlossanlage mit den typischen vier toskanischen Säulen und dem Giebeldreieck. Auch die Büsten von Terenz und Plautus blicken wieder aus ovalen Nischen über den seitlichen Eingängen in Unendliches. Allein – gespielt wird heute, jeden Abend neu.

1) 20 Mitarbeiter: Kurs- und Veranstaltungskonzeption und -durchführung, Finanzbuchhaltung, Pressearbeit, Bühnenmeister, Tontechniker, Küche, Zimmerdienst, Bühnen- und Hausarbeiter.

2) Bisherige Veröffentlichungen: Die Rheinsberger Hofkapelle von Friedrich II. Musiker auf dem Weg zum Berliner “Capell-Bedienten”, hg. v. Ulrike Liedtke, Rheinsberg 1995; “Jeder nach seiner Fasson”. Musikalische Neuansätze heute, hg. v. Ulrike Liedtke unter Mitarbeit von Claudia Schurz, Saarbrücken 1997; Das Theater des Prinzen Heinrich, hg. v. Ulrike Liedtke und Claudia Schurz, Leipzig 2000

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