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Dilg, Jenny Marielle

Überraschende Wendung

Lehrerwechsel aus psychoanalytischer Sicht

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2025 , Seite 16

Lehrerwechsel sind bei MusikerInnen meist emotional besetzt. Gleichzeitig sind sie ein notwendiger Teil jeder musikbezogenen Lernbiografie, denn Veränderungen können wichtige Lernprozesse auslösen. Doch was genau ­passiert bei einem Verabschie­dungs- bzw. Ablösungsprozess? Die psycho­analytische Theorie mit ihrem verstehenden Ansatz ist hilfreich, um psychische Vorgänge bei Musik­lernenden nachzuvollziehen, die entstehen, wenn sich die musikalische Bezugsperson ändert.

Seit einem Jahr besuche ich die sechsjährige Lara einmal wöchentlich zum Geigenunterricht. In den Stunden wehrt sie meine Spielideen und Anregungen zum Üben ab – so auch heute: Das Notenheft beachtet Lara nur kurz, das Instrument will sie erst gar nicht auspacken. Viel lieber zeigt sie mir auf dem Balkon die von ihr selbst gepflanzten Blumen. Ich versuche, Lara zu überreden, mir etwas vorzuspielen oder mit mir zusammenzuspielen. Doch dazu ist sie nicht zu bewegen. Schließlich gebe ich auf und lasse mir ihre Blumen, ihre selbstgemalten Bilder und Spielzeugfiguren zeigen. Dann plötzlich, nach 25 Minuten unseres halbstündigen Unterrichts, holt Lara ihre Geige und spielt das Hausauf­gabenstück musikalisch und spieltechnisch geradezu perfekt vor. Lara hat das Stück ganz offensichtlich intensiv geübt. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Zur Verabschiedung ruft Lara mir zu: „Ich nenne meine Geige Jenny!“
Was hat diese Situation mit einem Lehrerwechsel zu tun? Zunächst einmal gar nichts. Und doch kann die Analyse dieser Situation helfen zu verstehen, welche kreativen Prozesse bei einer Verabschiedung bzw. Ablösung (wie ein Lehrerwechsel sie darstellt) in Gang gesetzt werden können. Im Moment des Abschieds entsteht plötzlich etwas: Das Kind wendet sich seinem Musikinstrument zu. Und so endet die Stunde, die zunächst unübersichtlich wirkte, damit, dass Lara mir ein musikalisches Geschenk macht: Sie spielt mir etwas vor.
Um zu verstehen, inwiefern die beschriebene Situation Aufschluss über Ablösungsprozesse geben kann, soll sie mithilfe von drei psychoanalytischen Begriffen gelesen werden. Interpretiert man zunächst die Verabschiedung als Mini-Bruch, kann der psychoanalytische Krisenbegriff hinzugezogen werden. Dieser Mini-Bruch, der als zentrales Element der Geschichte wirkt, gewinnt jedoch nur an Bedeutung, wenn man in einem weiteren Schritt die Frage nach der Entwicklung von Bindung stellt. In der musikpädagogischen Interaktion spielt zudem ein Gegenstand eine wichtige Rolle, der zwar leblos ist, jedoch in der Fantasie zum Leben erweckt wird: das Musikinstrument. Hier kommt der psychoanalytische Begriff des Übergangsobjekts in Verbindung mit der Entwicklung von Kreativität ins Spiel.

Krise als Entwicklungsmöglichkeit?

Kann bei einem Lehrerwechsel ein kreativer Prozess in Gang kommen? In der beschriebenen Episode findet die eigentliche Beschäftigung mit dem Instrument erst in den fünf Minuten der Verabschiedung statt. Was genau ist in dieser Situation passiert und wie kann Laras un­erwartete Reaktion erklärt werden? Der sogenannte normative Krisenbegriff des Psychoanalytikers Erik Erikson liefert hierfür einen Denkansatz. Darunter versteht er „relativ überwindbare“1 Krisen, die Auslöser von Entwicklungsprozessen sind, bei denen Destruktivität nicht notwendigerweise eine Rolle spielt, wenn in diesem Prozess neue Wege eingeschlagen werden. So bedeutet der Abschied von der Lehrerin für Lara eine Krise, auf die sie im wahrsten Sinne mit dem „spielerischen Ergreifen neuer Möglichkeiten“2 reagiert.
Eine Definition von Dieter Ulich aus der praktischen Kriseninterventionsarbeit vervollständigt Eriksons Krisenbegriff. Er beschreibt eine Krise als „offene[n] Veränderungsprozess der Person, der gekennzeichnet ist durch eine Unterbrechung der Kontinuität des Erlebens und Handeln[s]“.3 Interessant an dieser Definition ist, dass eine Veränderung – ähnlich wie bei Erikson – nicht notwendigerweise negativ assoziiert werden muss. Eine Krise ist in dieser Interpretationsmöglichkeit lediglich eine Unterbrechung einer gewohnten Handlung. Lara ist ganz im Spiel versunken, doch dann verabschiedet sich die Lehrerin. Es findet eine Trennung, ein Mini-Bruch bzw. eine Krise statt. Zunächst ist sie nicht über das Ende der Stunde erfreut, denn sie würde gerne weiterspielen. Doch dann verarbeitet Lara die Situation konstruktiv, indem sie sich der Geige bzw. der Musik zuwendet.
Krisen, in unserem Beispiel in Form einer Trennungs­situation, können in pädagogischen Kontexten kreative Prozesse auslösen. Dies setzt allerdings eine stabile Bindung voraus.

1 Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus, Berlin 302021, S. 145.
2 ebd.
3 Kunz, Stefanie/Scheuermann, Ulrike/Schürmann, Ingeborg: Krisenintervention. Ein fallorientiertes Arbeitsbuch für Praxis und Weiterbildung, Weinheim 32009, S. 181.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2025.