Lätzer, Raika

„…um den feinsten Regungen der Seele als williges Instrument dienen zu können“

Aus Sicht der Sängerin und Gesangspädagogin Lula Mysz-Gmeiner (1876-1948) ist die Stimme der Seele oder dem Geist untergeordnet

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 4/2024 , Seite 46

Der insgesamt fünf Seiten lange Text „Die Gestaltung des Liedes“, dessen erste Absätze hier abgedruckt sind,1 wurde von der Mezzosopranistin und Gesangspädagogin Lula Mysz-Gmeiner (1876-1948) verfasst. Sie war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine renommierte Sängerin und trat europaweit sowie in Amerika insbesondere mit Liedprogrammen auf. Ab ca. 1909 unterrichtete sie Gesang in privatem Rahmen, 1921 wurde sie als Professorin für Gesang an die Staat­liche Hochschule für Musik zu Berlin (heute: Universität der Künste Berlin) berufen. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Lula Mysz-Gmeiners Wohnung in Berlin ausgebombt; im Anschluss war sie aus psychi­schen Gründen zunächst nicht in der Lage, in Berlin zu unterrichten. Ihr Vertrag wurde aus diesem Grund nicht mehr verlängert. 68-jährig nahm Mysz-Gmeiner eine Stelle als Gesangslehrerin und Leiterin des Fachbereichs Gesang am Staatlichen Konservatorium für Musik in Schwerin an.2
Lula Mysz-Gmeiner verfasste insgesamt sieben Texte und äußerte sich nur einmal explizit zu gesangspädagogischem Handeln.3 Es gibt somit kaum Dokumente von ihr oder über sie, die als eindeutige schriftliche methodisch-didaktische Quellen für den Bereich Instrumental- und Gesangspädagogik gelten können.
Auch ihr Text „Die Gestaltung des Liedes“ erschien 1934 nicht in einem gesangs-, instrumental- oder musikpädagogischen Kontext. Das Atlantisbuch der Musik war vielmehr laut den Herausgebern unter „Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter und Künstler“4 als „ein Lesebuch und ein Nachschlagewerk für alle […], denen Musik etwas bedeutet“5 konzipiert. Lula Mysz-Gmeiners Text wurde un­mittelbar nach einem Beitrag mit dem Titel „Stimm- und Gesangsbildung“ aus der Feder des Kölner Gesangspädagogen Edmund Joseph Müller (1874-1944) abgedruckt. Ihr Text kann als Auseinandersetzung einer Lied-Sängerin mit ihrem künstlerischen Tun gelesen werden; der Beitrag beschreibt und zielt insbesondere auf künstlerisches Handeln ab. Um den von Lula Mysz-Gmeiner skizzierten Anforderungen an Liedgesang jedoch zu entsprechen, bedarf es für nicht-professionelle und lernende SängerInnen gesangspädagogischen Handelns, sodass der Text durchaus je nach Fragestellung als Quelle im Kontext von Gesangspädagogik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelesen werden kann.
Das Atlantisbuch der Musik erschien laut dem Herausgeber Martin Hürlimann in insgesamt acht Auflagen, davon sechs Neubearbeitungen.6 Es war also offenbar überaus gefragt und wurde umfassend rezipiert. Die Herausgabe des Buchs im Jahr 1934 impliziert, dass sowohl die beiden Herausgeber als auch die im Buch vertretenen AutorInnen publizieren durften und die Veröffentlichung keinen NS-spezifischen Einschränkungen unterlag. Nach der Erstveröffentlichung folgten vier weitere Ausgaben während des NS-Regimes (1936, 1938, 1943, 1945).7

1 Mysz-Gmeiner, Lula: „Die Gestaltung des Liedes“, in: Hamel, Fred/Hürlimann, Martin (Hg.): Das Atlantisbuch der Musik, Zürich 1934, S. 637-642, hier: S. 637.
2 vgl. Maier, Raika: „Lernen, Singen und Lehren“. Lula Mysz-Gmeiner: Mezzosopranistin und Gesangspädagogin (1876-1948), Neumünster 2017 und Maier, Raika: Artikel „Lula Mysz-Gmeiner“, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard, Nina Noeske und Silke Wenzel, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003 ff. und Hochschule für Musik Weimar, 2022 ff., https://mugi.hfmt-hamburg.de/receive/mugi_person_00000589 (Stand: 8. Juli 2024).
3 Mysz-Gmeiner, Lula: „Erziehung zur Sängerin“, in: Die Elegante Mode, o. O. u. J., S. 17, Fotokopie, Archiv der Universität der Künste Berlin: Bestand 94, Nr. 6.
4 Hamel, Fred/Hürlimann, Martin: Vorwort, in: dies. (Hg.): Das Atlantisbuch der Musik, Zürich 1934, S. 3.
5 ebd., S. 7.
6 vgl. Hürlimann, Martin: Zeitgenosse aus der Enge, Freiburg 1977, S. 529.
7 vgl. ebd.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2024.