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Rübenacker, Jutta

„Und außerdem geigt sie noch…“

Gedanken zur musikalischen Patchwork-Identität

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2024 , Seite 24

Auf eine Episode aus meinem Leben bin ich wirklich stolz. Mein Sohn soll bei seiner Einschulung auf die Frage, was seine Eltern beruflich machen, geantwortet haben: „Meine Mutter ist Köchin, Bäckerin, Handwerkerin, Gärtnerin, Geschichtenerzählerin, Krankenpflegerin, Lehrerin. Ach ja, und außerdem geigt sie noch.“ Ich war bei der Einschulung meines Sohnes in der Endphase meines Studiums, hatte also während des Studiums bereits eine eigene Familie zu versorgen. Reicht das schon für eine Patchwork-Identität?

Ein Patch ist ein Flicken und Patchwork ein aus Flicken zusammengesetztes Textil. Böse Zungen könnten daraus die abwertende Bedeutung Flickenteppich im Sinne von stümperhaftem Flickwerk ableiten. Tatsächlich jedoch verbirgt sich hinter dem Begriff eine anspruchsvolle kunsthandwerkliche Arbeit. Eine mindestens ebenso bedeutsame Rolle wie die kunstvolle Komposition der Flicken spielen die Nähte, die die Flicken zusammenfügen. Sie dürfen die Optik nicht stören und müssen äußerst sauber und stabil sein. Die verbindende Qualität ist also von entscheidender Bedeutung.
Der Begriff „Patchwork-Identität“ wurde vom Psychologen Heiner Keupp in den 1980er Jahren geprägt.1 Keupp stellte fest, dass – ausgelöst durch krisenhafte globale, gesellschaftliche und politische Prozesse – die traditionellen Lebensmuster im Zuge der Pluralisierung der Lebensformen nicht mehr selbstverständlich sind. Anstelle der biografischen Eindeutigkeit des „Ein-für-allemal-festgelegt-Seins“ tritt eine aus Erfahrung gewonnene situative Anpassung. Dieser Anpassungsvorgang ist nicht als eine Verleugnung der eigenen Identität zu verstehen, sondern als Bereicherung. Die eigene Handlungswirksamkeit in der Alltagswelt ist kein Verlust der Identität, sondern ein Bewahren derselben. Die Fähigkeit, Verbindungen von häufig nur auf den ersten Blick Disparatem zu finden, sowie das Aushalten von Ambivalenzen sind die großen Herausforderungen unserer Zeit.

1 vgl. Keupp, Heiner: Identitätskonstruktion. Vortrag bei der 5. bundesweiten Fachtagung zur Erlebnispädagogik am 22. September 2003 in Magdeburg, www.ipp-muenchen.de/ipp/uploads/identitaetskonstruktion.pdf (Stand: 21.7.2024).

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