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Brembeck, Felicia

Und Maria sang

Ein Manifest für gendersensibles Sprechen und Agieren im Musikunterricht

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2022 , Seite 12

Gendersensible Sprache genießt oftmals keinen allzu guten Ruf und ist an Musik(hoch)schulen noch immer eher selten Thema. Inwieweit ist Sprache ein entscheidendes Instru­ment gender­sensiblen Handelns? Was hat das mit Musik und Musikunter­richt zu tun? Und warum muss Maria singen? Ein argumentatives Manifest.

In einem Gedicht von Kurt Marti heißt es:
„[…] und maria konnte kaum lesen
und maria konnte kaum schreiben
und maria durfte nicht singen
noch reden im bethaus der juden
wo die männer dem mann-gott dienen
dafür aber sang sie
ihrem ältesten sohn
dafür aber sang sie
den töchtern den anderen söhnen
von der großen gnade und ihrem
heiligen umsturz […]“1
Es geht in diesem Gedicht um die Gottesmutter Maria, das weibliche Stereotyp schlechthin, das weit über die Grenzen der katholischen Kirche hinaus unser europäisches Frauenbild geprägt hat und bis heute prägt. Es geht aber auch um Marias Magnificat, den berühmten Lobgesang einer einfachen jungen Frau, die ausgewählt wird, eine entscheidende Rolle in der Geschichte des Christentums zu spielen. Als Ausdrucksmittel einer theo­logischen Revolution steht schon in der Bibel der Gesang – und Marti wählt ihn wieder, um seiner Kirchenkritik Expression zu verleihen. Und Maria sang. Und damit änderte sich alles.
Es soll in diesem Artikel um gendersensibles Sprechen und Agieren im Kontext von Musikunterricht gehen – und ein bisschen wird es deshalb auch darum gehen, warum es so wichtig ist, dass Maria singt. Ich schreibe diesen Artikel aus meiner eigenen Perspek­tive, die natürlich auch Begrenzung und Färbung durch meine Erfahrungen und auch Privilegien erfährt. Ich schreibe als cis Frau,2 auch als weiße Frau, die Deutsch als Muttersprache spricht und in einer musikalischen Familie mit allen finanziellen Privilegien für Musik- und Instrumentalunterricht, eigenen Instrumenten und Auftrittsmöglichkeiten zur Vorbereitung auf das Musikstudium aufgewachsen ist.
In diesen Artikel mischen sich neben meinem geisteswissenschaftlichen Blick auf Studien, Fakten und empirische Erkenntnisse auch meine Erfahrungen als Operngesangsstudentin, meine Außenperspektive als Autorin und sicherlich auch meine Überzeugungen als bekennende Feministin. All das transparent zu machen, empfinde ich als wichtig und auch schon als einen ersten Schritt hin zu gendersensiblem Agieren und Sprechen.

„Muss das denn sein?“

Warum Sprache ein wirksames Mit­tel ­gendersensiblen Agierens ist
Die These zu äußern, Geschlechtergerechtigkeit könne auch und sogar in weiten Teilen durch gendersensible Sprache – verkürzt: durch „Gendern“ – herbeigeführt werden, ist nicht ganz ungefährlich. Nicht nur die Emotionen derjenigen, die durch eine sich verändernde Spra­che und Welt um die eigenen Privilegien fürchten müssen, geraten hierbei rasch außer Kontrolle: Gendersensible Sprache ist generell ein Reizthema, das unsere Gesellschaft bereits spaltet, seit die feministische Linguistik um 1960 eben jenes Thema auf den Plan gerufen hat. Einigkeit herrscht nicht mal unter denjenigen, die grundsätzlich eine Sprache befürworten, die möglichst alle Geschlechter abbilden und berücksichtigen soll. Auch dort wird diskutiert und gestritten über die Form dieses Anliegens. Nennt man männliche und weibliche Form oder gar das generische Femininum? Nutzt man geschlechtsneutrale Begriffe oder lässt im Schriftlichen eine durch Asterisk*, Doppelpunkt: oder Unterstrich_ deutlich gemachte und im Gesprochenen eine durch Pause oder Glottisschlag gekennzeichnete Lücke? Und welches Sonderzeichen soll man nutzen? Oder ist doch das Binnen-I die ultimative Lösung? Will man, dass die gewählte Form den Lesefluss stört oder sich möglichst unauffällig einfügt?
Zu all diesen Vorschlägen gibt es Argumente und meist auch Gegenargumente, manchmal ist nicht einmal die Zielsetzung die gleiche. Von einem einheitlichen Sprachwandel kann nicht die Rede sein und im Kampf um mehr Geschlechtergerechtigkeit in offizieller Kommunikation kochen hier regelmäßig die Gemüter hoch. Besonders auf Seiten der Gegner*innen fährt man jedoch oft starke sprachliche Geschütze auf, um solche Versuche zu diffamieren. Als „lächerlich“ und „albern“ empfindet man dieses „Gender-Gaga“, als „von oben aufgezwungene Randgruppendiktatur“. Einige sehen gar eine „Verge­wal­tigung der Sprache“ im Abweichen von der männlichen Norm. Interessant, dass hier ausgerechnet ein Gewaltverbrechen herangezogen wird, das in der überwältigend großen Mehrheit an Frauen verübt wird – und zwar in der absoluten Mehrheit von Männern. Selten ist dieser traurige Fakt und seine Beseitigung ebenso Thema bei den selbsternannten Sprachschützer*innen wie das, was in ihren Augen der „armen deutschen Sprache“ durch Sternchen und Sprechpausen angetan wird.
Ein häufiges Missverständnis findet sich in diesem Zusammenhang oft in der Annahme, eine Person, die ausschließlich von „Lehrern“, „Musikern“ und „Politikern“ spricht, würde dabei nicht gendern. Grammatikalisch ist uns das im Deutschen kaum möglich. Auch diese gewählten Sprachformen sind also selbstverständlich gegendert – nur eben im generischen Maskulinum, das lange Zeit die Norm darstellte und alle anderen Geschlechter darauf reduziert, „mitgemeint“ zu sein. Warum aber sollte das so schlimm sein?
Als Autorin und Germanistin weiß ich um die Macht von Sprache. Ich weiß, dass wir mit bewusst gewählten Formulierungen Bilder erschaffen, Emotionen hervorrufen, Erlebnisse verarbeiten und ganze Beziehungen aufbauen können, aber auch Schreckliches verharmlosen und grundsätzlich Gutes mit Unangenehmem verbinden können. Sprache ist in unseren Gesellschaftsformen das Kommunikationsmittel, das hauptverantwortlich für den Verlauf sozialer Beziehungen ist. Damit stellt Sprache eine große strukturelle Macht im Sinne eines Faktors dar, der die Handlungsmöglichkeiten aller Beteiligten steuert und somit nicht nur individuelle soziale Beziehungen, sondern auch das politische und gesamtgesellschaftliche Geschehen entscheidend prägt und mitbestimmt.3
Immer schon haben politische Systeme sich der Sprache bedient, um Ideologien zu verbreiten und staatliche Handlungen legitim erscheinen zu lassen. Drastische Beispiele dafür finden sich in der deutschen Geschichte leider zu Genüge, wenn wir beispielsweise an den Jargon der Propaganda im Nationalsozialismus denken, durch den jüdische Menschen sprachlich bewusst entmenschlicht und Gewalt gerechtfertigt werden sollte. Über gemeinsame Sprachkonventionen gren­zen wir uns aber auch auf individueller Ebene voneinander ab und machen Zugehörigkeiten deutlich. Ob das durch Dialekte, Fachbegriffe oder Sprachebenen im Klassendenken geschieht: Auch hierfür finden sich alltäglich zahllose Beispiele. Wir erlernen diese Welt von klein auf über visuelle Bilder und Symbole und ihre sprachlichen Äquivalente. Erst durch das Erlernen einer Sprache treten wir in Kommunikation und in einen gemeinsamen Mikrokosmos; wir füllen das Erleben mit Bedeutung und machen auch Konzepte und Ideen außerhalb des sinnlich Erfahrbaren sprachlich greifbar.
Es ist also kein Wunder, dass sich der Paradigmenwandel, der sich in den nachkommenden Generationen deutlich abzeichnet, ebenfalls sprachlich niederschlägt und über Sprache verhandelt wird.

Ich erlebe ich im Kontext von ­pro­fessionalisiertem Instrumental- und Gesangsunterricht ­immer wieder, dass recht wenig Sensibilität für ­Genderthemen vorhanden ist.

Kübra Gümüsay schreibt in ihrem Buch Sprache und Sein, das sich mit dieser Verbindung von Sprache und individueller, aber auch struktureller Beeinflussung beschäftigt und eindrücklich zeigt, wie nahezu all unser Denken und unsere Wahrnehmung der Welt mit Sprache verknüpft ist: „Wenn Sprache un­sere Betrachtung der Welt so fundamental lenkt – und damit auch beeinträchtigt –, dann ist sie keine Banalität, kein Nebenschauplatz politischer Auseinandersetzungen. Wenn sie der Stoff unseres Denkens und Lebens ist, dann müsste es selbstverständlich sein, dass wir uns immer wieder fragen, ob wir einverstanden sind mit dieser Prägung.“4
Aus diesem Grund ist die Frage nach gendersensibler Sprache relevant und muss diskutiert werden. Es geht dabei nämlich um weit mehr als die Befriedigung der Bedürfnisse überempfindlicher Randgruppen. Zahlreiche Studien5 belegen mittlerweile die Wirksamkeit gendergerechter Sprache, in einigen von ihnen wird auch deutlich, wie entscheidend und fatal die Auswirkungen einer „normal“ gegenderten Sprache für all diejenigen sein können, die nicht als Männer gelesen werden. Diese kompliziert anmutende Konstruktion verwende ich hier ganz bewusst, da wir nicht von äußerlichen Merkmalen wie Aussehen, Haarlänge, Name oder Kleidungsweise auf das Geschlecht schließen können. So werden beispielsweise teilweise auch nichtbinäre Personen oder trans Männer weiblich gelesen und leiden unter frauenfeindlichen Strukturen, obwohl sie keine Frauen sind.

1 Kurt Marti: „und Maria“, in: Karl-Josef Kuschel (Hg.): Und Maria trat aus ihren Bildern. Literarische Texte, Freiburg 1990, S. 72-75.
2 Cis oder cisgeschlechtlich meint im Gegensatz zu trans bzw transgeschlechtlich die Übereinstimmung der eigenen Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht.
3 vgl. Gerhard Göhler/Ulrike Höppner/Sybille De La Rosa: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Weiche Steuerung. Studien zur Steuerung durch diskursive Praktiken, Argumente und Symbole, Baden-Baden 2009, S. 12.
4 Kübra Gümü¸say: Sprache und Sein, Berlin 2020, S. 23.
5 siehe beispielsweise: Dries Vervecken/Bettina Hannover: „Yes I Can! Effects of Gender Fair Job Descriptions on Children’s Perceptions of Job Status, Job Difficulty, and Vocational Self-Efficacy“, in: Social Psychology, 46. Jg., H. 2, 2015, S. 76-92; Margit Tavits/Efrén Pérez: „Language influences mass opinion toward gender and LGBT equality“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 116. Jg., H. 34, 2019, S. 16781-16786.

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