© Ursula Symphonics

Unterberg, Lisa

Unser Orchester: unser Ding

Partizipation im Jugendorchester

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2017 , Seite 44

Partizipation ist in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt durch die Initia­tive der Bundes­vereinigung Kulturel­le Kinder- und Jugendbildung (BKJ), zu einem zentralen Begriff in der kulturellen Bildung avanciert. Die Frage nach der Teilhabe, dem Mitwirken und Mitbestimmen von Kindern und Jugendlichen in Prozessen und Pro­jekten der kulturellen Bildung lässt sich zwar bis in die 1970er Jahre zu­rückverfolgen, entwickelt jedoch vor den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen eine neue Relevanz. Im diesem Beitrag sollen Möglichkeiten und Chancen von Partizipation in Jugendorchestern beleuchtet werden.

Die Institution Jugendorchester wird hier nicht in einem ausschließlich symphonischen, hochkulturellen Zusammenhang verstanden. Vielmehr ist eine Gruppe von musizierenden Kindern und Jugendlichen gemeint, die unabhängig von der konkreten Besetzung und dem Repertoire regelmäßig zusammen unter Anleitung musizieren: ein Streichensemble an der Musikschule, die Bläserklasse oder Jazzband in der Schule, das Improvisations­ensemble eines Jugendheims oder der Posaunen­chor in der Kirchengemeinde. Damit unterscheiden sich diese Ensembles von der selbstgegründeten Schülerband insofern, als dass sie mit der Schule oder non-­formalen Bildungsinstitutionen verknüpft sind und durch einen oder mehrere Erwachsene musikalisch und pädagogisch betreut werden.

Jugendorchester als Bildungsort

Es leuchtet zunächst ein, dass Jugendorchester Orte und Institutionen der musikalischen Bildung sind. Kinder und Jugendliche kommen hier regelmäßig zum gemeinsamen Proben zusammen, entwickeln ihre instrumen­talen Fähigkeiten und erlernen das Zusammenspiel. Sie bereiten sich gemeinsam auf Konzerte vor und spielen vor Publikum.
Das Nachdenken über Partizipation erweitert den Blick und macht deutlich, dass Jugendorchester Lernanlässe über den musikalischen Aspekt hinaus in sich tragen. Partizipation hat, wie Jörg Zirfas deutlich macht, „im Kern eine politische Grundierung“.3 Partizipation ist ein konstituierendes Merkmal moderner demokratischer Gesellschaften. Es ist entscheidend, dass sich die BürgerInnen mit demokratischen Institutionen identifizieren und sich in vielfacher Hinsicht beteiligen.4 Abst­rakte demokratische Werte wie die Lust am Engagement und das Bewusstsein für die eigene Gestaltungsmacht fallen jedoch nicht vom Himmel, sondern müssen eingeübt und konkret erlebt werden: „Partizipation in der Bildung soll in diesem Sinne dazu beitragen, das politische Interesse zu erhöhen, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten.“5 Jugendorchester stellen einen pädagogischen Kontext dar, in dem diese Erfahrungen in überschaubarem und geschätztem Rahmen gemacht werden können.

Mehr als (nur) Musiker/in

Warum ist es überhaupt notwendig, über Partizipation im Jugendorchester nachzudenken? Jugendorchester­arbeit, ja musikalische Bildung überhaupt ist ohne Partizipation, z. B. ohne das aktive, partizipative Musizieren der Mitglieder, nicht denkbar.6 Wenn der Partizipationsbegriff jedoch ernst genommen wird, dann geht er über das reine Musizieren hinaus. Im Begriff der Partizipation schwingt immer auch die Frage nach der Macht und deren Ausübung mit: „Es geht um Teilhabe an Macht, um Mitwirkung an der Gewaltausübung, einerseits um eine Bestimmung der Subjekte über sich selbst […], andererseits um die Chance, auf die Geschehnisse Einfluss zu gewinnen, welche ihrerseits das eigene Leben im Allgemeinen wie aber auch in seiner besonderen, alltäglich konkreten Wirk­lichkeit bestimmen.“7
Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses sind Jugend­orchester nicht per se Einrichtungen, in denen Partizipation möglich wird. Beim Blick in eine ganz normale Probe eines sinfonischen Jugendorchesters wird dies deutlich: Da sitzen Kinder und Jugendliche auf den von einer langen Orchestertradition vorgegebenen Plätzen hinter Notenpulten. Sie spielen erste oder zweite Geige, an einem vorderen oder hinteren Pult, dirigiert und angeleitet durch einen Orchesterleiter, der den Ton angibt. Die Kinder und Jugend­lichen tragen zwar einen Teil zum Ganzen bei, Gestaltungsmacht haben sie aber nur in einem sehr begrenzten Rahmen. Orchesterproben sind aus bestimmten Gründen so gestaltet und nicht jeder künstlerische Prozess ist demokratisch. Manchmal ist es notwendig, dass ein erfahrener Orchesterleiter den Ton vorgibt, um das bestmögliche künstlerische Ergebnis zu erzielen. Dies alles hat seine Berechtigung – aber eben mit Partizipation wenig zu tun.
Partizipation im umfassenden Sinn wird dann im Jugendorchester möglich, wenn über den rein künstlerischen Prozess hinausgedacht wird. Es gibt eine Vielzahl von Entscheidungen, die getroffen werden müssen, von Möglichkeiten der aktiven Mitgestaltung und Verantwortung, die mit übernommen werden können: Entscheidungen über das Programm, Organisation von Proben­wochen­enden und Konzerten, Gestaltung von Programm­heften und Plakaten, Entwerfen von Pressemitteilungen, Absprachen mit Partnern und Förderern. Die Jugend­orchesterarbeit erhält so neue Impulse. Von den eigenen Mitgliedern, die Ideen entwickeln, und von außen. Häufig wird vergessen, dass hinter jedem Mitglied ein Netzwerk steckt, das durch die Partizipation ebenfalls aktiviert wird. Da tun sich ungeahnte Möglichkeiten der Entlastung und Unterstützung auf: Kontakte zu Druckereien oder Veranstaltungsörtlichkeiten, zur lokalen Presse oder zu Sponsoren.

Mehr als (nur) Dirigent/In

Meistens sind es die JugendorchesterleiterInnen, die neben der musikalischen Arbeit auch alle inhaltlichen und organisatorischen Belange regeln: von der Planung der Inhalte und Termine bis zum Aufräumen der Stühle nach der Probe; in Nachtschichten, mit unbezahlten Überstunden und in Projektphasen bis zur völligen Erschöpfung. Stellen Sie sich vor, dass diese Arbeit auf mehrere Schultern verteilt werden kann. Aber: Wie sollen die ­Jugendlichen ganze Konzerte organisieren, wenn sie es nicht einmal schaffen, nach der Probe ihre Stühle wegzuräumen?
Damit Partizipation möglich wird und die Kinder und Jugendlichen selbst Verantwortung übernehmen können, müssen hierfür Räume entstehen. Wie bereits oben beschrieben hat die Frage nach Mitgestaltung und Engagement auch etwas mit Macht und Verantwortung zu tun. JugendorchesterleiterInnen, die nicht mehr alle Entschei­dungen selbst treffen und alle Aufgaben selbst übernehmen, müssen wohl oder übel Macht abgeben. Die Rolle und Aufgabe der Erwachsenen verschiebt sich vom Leiter oder von der Dirigentin hin zur Begleiterin, zum Coach und Moderator. Sie unterstützen Jugendliche in ihren Begabungen (die diese manchmal selbst nicht einmal sehen) und beraten im Verlauf von Projekten.
Dabei sind natürlich das Wissen und die Erfahrung von Erwachsenen sehr hilfreich und nützlich. So können Kinder und Jugendliche beispielsweise häufig schwer beurteilen, welche Werke für ihr Orchester in der Schwierigkeit und Besetzung angemessen sind, oder finanzielle, räumliche und zeitliche Ressourcen werden falsch eingeschätzt. Hier sind Lösungshilfen und Vorschläge von Erwachsenen sehr willkommen. Entscheidend ist die partizipative Grundhaltung,8 welche die Fähigkeiten und das Engagement von Kindern und Jugendlichen anerkennt und unterstützt, auch wenn dabei eigene Macht verloren geht.
Häufig sind es die Impulse von OrchesterleiterInnen, die die Mitglieder überhaupt auf die Idee bringen, sich selbst zu engagieren oder eigene Ideen mit einzubringen. Die Einrichtung eines Orchestervorstands, eines Programmausschusses oder eines Technikteams sind häufig Anlässe, welche die Jugendlichen aktiv werden lassen. Auch der Vorschlag zur Teilnahme an einem Wettbewerb oder an einem bestimmten Projekt kann die Orchestermitglieder in ihrem Engagement stärken. Der Deutsche Jugendorchesterpreis der Jeunesses Musicales ist seit 1996 eine Initiative, die mit ihrem Konzept und Begleitmaterial die Partizipation in Jugendorchestern fördert und neue Impulse für die Arbeit in Jugend­orchestern setzt.

Beispiel I – musikalische Reise durch den Kiez

Mitten in Freiburgs Bahnhofs- und Bankenviertel liegt das St. Ursula Gymnasium Freiburg. Hier fand auch das Konzert statt, mit dem das Schulorchester „Ursula Symphonics“ den Deutschen Jugendorchesterpreis 2015 gewann. Sieben Schülerinnen taten sich im Mai 2015 zu ­einem Projektteam zusammen, um die Teilnahme am Wettbewerb vorzubereiten.9 Ziel des Projekts war es, das turbulente Leben der Stadt rund um das Mädchengymnasium musikalisch auf die Bühne zu bringen. In Zusammenarbeit mit dem Schulchor, einem Kunstkurs und einem Literatur- und Theaterkurs wurde dann im April 2015 das Konzert aufgeführt.
Improvisationen über Bahnhofsgeräusche bildeten den Ausgangspunkt, von dem aus musikalisch die Welt rund um die Schule dargestellt und interpretiert wurde. Der Drogeriemarkt, das italienische Café, der Schreibwarenladen, die Banken, aber auch die „Stolpersteine“ des Stadtteils, mit denen an die Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird, wurden dem Publikum mit Hilfe von kurzen Szenen und passenden Musikstücken vorgestellt. Die Einzelhandelsgeschäfte wurden in der Vor­bereitung des Konzerts als Partner und Unterstützter gewonnen und halfen somit bei der Umsetzung der Idee. Selbstverständlich wurde auch die Moderation des Abends von Schülerinnen übernommen.
Die Verknüpfung mit den Menschen im Stadtteil, die hohe Identifikation der Schülerinnen mit dem Konzert und die große Zahl der Mitwirkenden sorgten für ein volles Haus. Die Begeisterung übertrug sich auf das Publikum, wie die auf der Homepage dokumentierten Zuschauerstimmen zeigen.10
Das Projekt macht deutlich, wie sich Schülerinnen künst­lerisch mit der sie umgebenden Lebenswelt auseinander­gesetzt haben. Neben der Nähe zur Lebenswelt zeichnet es sich außerdem durch ein hohes Maß an Praktikabilität aus. Für die Umsetzung der Idee waren keine unverhältnismäßig aufwändigen technischen Voraussetzungen notwendig und sie war künstlerisch und organisatorisch für die Schülerinnen mit Hilfe ihrer Lehrkräfte zu bewältigen.

Beispiel II – Über Grenzen ­hinweg: Weltmusik

Im Juni 2015 spielte das Jugend-Sinfonie-Orchester Bremen-Nord sein Konzert an einem ganz besonderen Ort: Auf dem Innenhof mitten in der Hochhaussiedlung Grohner Düne. Hier leben Menschen aus über 50 Nationen und der Stadtteil wird häufig negativ von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Um das zu ver­ändern, wollten die Mitglieder des Jugend­orchesters zusammen mit geflüchteten syrischen Musikern und Bewohnern des Stadtteils dort ein Konzert geben. Die Reaktionen auf die Idee waren zunächst kritisch: Ob in solch einem Stadtteil ein Konzert ohne Polizeischutz möglich sei?
Dank vieler Kontakte zu Menschen im Stadtteil, mit Hilfe von Einrichtungen vor Ort und dem Quartiersmanagement fand das Konzert dann doch statt. Es wurden die Norwegischen Tänze von Edvard Grieg mit traditioneller arabischer Musik verwoben, Menschen aus dem Stadtteil spielten ihre Musik und syrische Musiker zeigten ihr Können. Neugierigen Zuhörer standen auf ihren Balkonen, Kinder saßen auf dem Boden und die negativen Schlagzeilen wurden – zumindest vorübergehend – vertrieben. Hier haben die Jugendlichen ohne Berührungsängste und voller Neugierde einen Ort erschlossen, an dem sonst keine Konzerte stattfinden. Sie haben ihren eigenen Sozialraum verlassen und sich auf die Suche nach neuen Begegnungen gemacht. Für dieses Projekt haben sie neben dem guten Gefühl, selbst etwas auf die Beine gestellt zu haben, den Anerkennungspreis des Deutschen Jugendorchesterpreises gewonnen.11
Angesichts von Schulzeitverkürzungen, Notendruck und Freizeitstress, dem jugendliche Orchestermitglieder heute ausgesetzt sind, müssen Jugendorchester zunehmend auf diese Veränderungen und Herausforderungen reagieren. Die Partizipation von Kindern und Jugend­lichen über das reine Musizieren hinaus erhöht häufig die Begeisterung, Motivation und Identifikation der Mitglieder für ihr Orchester. Dabei erwerben die jungen Menschen Fähigkeiten und Wissen, das sie ihr Leben lang begleitet und das bei Bedarf sogar in die Abschlussnoten einfließen kann. In vielen Bundesländern gibt es die Möglichkeit, ehrenamtliches Engagement (auch im Jugendorchester) als zusätzliche Lernleistungen in der Abiturnote zu berücksichtigen.
Und nicht zuletzt geht es um das Gefühl, das eine Teilnehmerin des Jugendorchesterpreises so beschreibt: „Es war mega anstrengend. Aber am Ende hatten wir das geile Gefühl: Das ist unser Projekt. Also das haben wir selbst auf die Beine gestellt. Dafür hat es sich gelohnt.“

1 vgl. Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ): „(Wie) Macht Kulturelle Bildung die Gesellschaft jugendgerecht(er)?“, in: BKJ (Hg.): Kulturelle Bildung. Reflexionen. Argumente. Impulse. Partizipa­tion, Remscheid 2016, S. 4-6.
2 vgl. Jörg Zirfas: Kulturelle Bildung und Partizipation. Semantische Unschärfen, regulative Programme und empirische Löcher, Einleitung, 2015, www.kubi-online.de/artikel/kulturelle-bildung-partizipation-
semantische-unschaerfen-regulative-programme-empirische (Stand: 20.11.2016).
3 ebd., Begrifflicher Zugang.
4 vgl. ebd.
5 ebd.
6 vgl. Christian Rolle: „Musikdidaktische Reflexionen. Was heißt ­musikalische Bildung durch Inszenierung ­ästhetischer Erfahrungsräume?“, in: Christopher Wallbaum (Hg.): Perspektiven der Musikdidaktik. Drei Schulstunden im Licht der Theorien, Hildesheim 2010, S. 233-259, hier: S. 247.
7 Michael Winkler: „Diesseits der Macht. Partizipation in ,Hilfen zur Erziehung‘ – Annäherungen an ein komplexes Problem“, in: Neue Sammlung. Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft 2/2000, S. 187-209, hier: S. 189 f.
8 vgl. Helmut Seidenbusch: „Erarbeitung einer partizipativen Grundhaltung. Ein Weiterbildungsformat der Bundesakademie für musika­lische Jugendbildung Trossingen“, in: BKJ (Hg.): Kulturelle Bildung,
a. a. O., S. 58 f.
9 Eine ausführliche Dokumentation zur Teilnahme am Deutschen ­Jugendorchesterwettbewerb findet sich auf der Website des Gymna­siums: www.st-ursula-freiburg.de/index.php/aktivitaeten/wettbewerbe/jugendorchesterpreis (Stand: 6.2.2017).
10 ebd.
11 vgl. Jeunesses Musicales Deutschland: Anerkennung, Jugend-Sinfonie-Orchester Bremen Nord, 2015, www.jugendorchesterpreis.de/wettbewerbe/jop/deutscher-jugendorchesterpreis/preistraeger/2015-anerkennungspreis-bremen (Stand: 23.11.2016).

Weitere Literatur
Helle Becker: Partizipation und Kulturelle Bildung in Jugendarbeit und Schule, 2015, www.kubi-online.de/artikel/partizipation-kulturelle-bildung-jugendarbeit-schule (Stand: 20.11.2016)

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 2/2017.