Bork, Magdalena
Unterstützung oder Kritik?
Talenteförderung heute im Spannungsfeld
Wollen wir begabte Individuen fördern und sie befähigen, ihrem eigenen inneren Drehbuch zu folgen? Oder wollen wir Begabungspotenziale ausfindig machen und in Spitzenleistungen und Bilderbuchkarrieren verwandeln? Widersprechen sich diese beiden Ansätze? Und was zeigt uns dazu die Lebens- und Leidensgeschichte des jungen Gidon Kremer? Spots auf einige Grundbedürfnisse zeigen Bedingungen, die die Leistungsbereitschaft anfachen – und junge musikalische Talente zum Gehen eigener Wege motivieren.
„Ich muss! Und doch – vielleicht nicht Geiger werden? Gelegentlich komme ich mir so unbegabt vor. Was brauche ich mehr – Unterstützung oder Kritik? Wahrscheinlich Unterstützung, ich bin so schwach der Kritik gegenüber (sogar der dümmsten). Wo ist der Mensch, der mir helfen könnte? Ich muss ihn suchen, nicht auf ihn warten.“ (217)1
Die Worte des 17-jährigen Gidon Kremer drücken die Zweifel, Wünsche und Empfindungen aus, die den damals heranwachsenden hochbegabten Geiger umtrieben. Das Zitat entstammt seinem Tagebuch – ein authentisches Dokument, welches der 45-jährige Kremer – in der Zwischenzeit zu einem der wichtigsten und interessantesten Geigensolisten unserer Zeit geworden – in Form seiner Autobiografie Kindheitssplitter der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. In diesem Buch hat er seine musikalische und persönliche Entwicklung während seiner Kindheit und frühen Jugend im sozialistischen Russland der 1960er Jahre dokumentiert.
Sein Weg als Geiger schien vorbestimmt: Vater, Mutter und Großvater waren schon Geiger. Vor allem der Vater, unterstützt vom Großvater, war von Anfang an mit großem Einsatz, Eifer und Strenge dahinter, aus dem kleinen geigenden Didi einen großen Künstler zu machen. Die Aufarbeitung seiner Entwicklung von den allerersten musikalischen Erinnerungen bis zum Eintritt ins Moskauer Konservatorium mit 18 Jahren, die er im Buch beschreibt, gewährt tiefe und berührende Einblicke in das Streben, Leiden und Leisten eines jungen Hochbegabten – Einblicke in Phänomene, die auch heute, ein halbes Jahrhundert später, in der Spitzenförderung von musikalischen Talenten nach wie vor aktuell sind.
„Was brauche ich?“
Um Talenteförderung geht es in zwei aktuellen Forschungsprojekten in Österreich: einerseits im „Young Masters Research“-Projekt, das ich seit 2014 in der Begabtenförderung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien durchführe, und andererseits im Projekt „Violine Intensiv“, in dem besonders begabte junge niederösterreichische GeigerInnen wissenschaftlich begleitet werden – junge GewinnerInnen des Bundeswettbewerbs „Prima la Musica“, die durch zusätzliche Fördermaßnahmen zwei Jahre lang besonders intensiv in ihrer Entwicklung auf der Geige unterstützt werden. In beiden Projekten wird die Frage untersucht, wie junge Talente lernen und was sie in ihrer Entwicklung heute – aber auch für ihr Morgen – brauchen. Wie entsteht aus Begabung eine Leistung? Welche Faktoren begünstigen die Entfaltung überdurchschnittlichen Könnens? Mit Gidon Kremer gefragt: Brauchen musikalische Talente Kritik oder Unterstützung?
Aber auch Fragen vom anderen Ende der Ausbildung erscheinen vor dem Hintergrund der starken Veränderungen in der klassischen und traditionellen Musiklandschaft heutzutage besonders virulent. Welchen Typus Musiker brauchen Konzertpodien heute? Welche Qualitäten und Fähigkeiten werden zukünftige MusikerInnen dazu befähigen, ihren Platz in der Welt zu finden? Und wie kann es den Universitäten und Hochschulen gelingen, ihre Ausbildungsprogramme so aufzustellen, dass sich die InstrumentalistInnen gefördert und inspiriert fühlen? Denn bei allem noch so gut gemeinten Förderangebot, das allzu häufig gekoppelt wird an Leistungserwartungen (z. B. Wettbewerbspreise, ausgezeichnete Prüfungserfolge, frühe Prioritätsentscheidung zugunsten des Instruments), bleibt die Gefahr, dass die ursprüngliche Motivation und Hingabe der jungen InstrumentalistInnen an die Musik dem Leistungs-, Erfolgs- und Übedruck zum Opfer fällt.
Die Leitgedanken, die uns die Motivationsforschung in diesem Zusammenhang liefert und die in der Begleitung junger MusikerInnen wirksam sind, sind von Bedeutung für alle Pre-College- und Vorstudien-Programme, die mehr bieten möchten als enge, vorbestimmte Wege, an die sich die jungen InstrumentalistInnen anpassen müssen.
1 Dieses und alle folgenden in diesem Beitrag verwendeten Zitate von Gidon Kremer sind seinem Buch Kindheitssplitter (Piper, München 1993) entnommen. Die Seitenzahl wird jeweils in Klammer angegeben.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2016.