Hömberg, Tobias
Variable Konturen
„Identität“ in musikalisch-kulturellen Ausformungen
Nicht selten werden die Beziehungen zwischen Menschen, Kulturen und Musiken heute unter das Vorzeichen „Identität“ gestellt. Wie unterschiedlich dieses Wechselspiel in musikpädagogischen Zusammenhängen arrangiert sein kann und was dies für Musikunterricht bedeuten mag, wird hier an einem Beispiel skizziert.
Im Jahr 2012 stellte der Deutsche Musikrat sein Grundsatzpapier Musikalische Bildung in Deutschland vor. Es wendet sich an Akteure im Bildungs- und Kulturbereich ebenso wie an politische EntscheidungsträgerInnen und fordert damit eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für musikalische Bildung ein. An verschiedenen Stellen dieses Papiers findet der Begriff „Identität“ Verwendung. So zunächst unter Bezug auf die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt in der vorangestellten Präambel: „Der Schutz und die Förderung des Kulturellen Erbes, der zeitgenössischen künstlerischen Ausdrucksformen einschließlich der Populären Musik und der Kulturen anderer Länder in Deutschland bilden eine wesentliche Grundlage für Identität, Zusammenhalt und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.“1 Im weiteren Verlauf wird, im besonderen Bemühen um die kulturelle Partizipation von Menschen mit unterschiedlichen Herkünften und Ressourcen, unter anderem festgestellt: „Dass eine gesellschaftliche Teilhabe des Menschen ganz wesentlich davon abhängt in wie weit [sic!] er mit seiner eigenen Identität auch kulturell eingebunden ist, gehört zur demokratischen Grundüberzeugung.“2
Identität als Fluchtpunkt
Seit einigen Jahrzehnten ist zu beobachten, dass der Begriff „Identität“ in musikpädagogischen Kontexten in Anspruch genommen wird, um kulturelle Zugehörigkeiten und Verortungen von Menschen zu beschreiben, ihre Beziehungen zu Musik und Musiken zu charakterisieren oder aber, wie hier, Zielvorstellungen musikalischer Bildung zu formulieren bzw. zu legitimieren. SprecherInnen aus Musikpädagogik und Bildungspolitik versichern sich damit nicht zuletzt eines allgemeinen Konsenses, demzufolge das Herstellen und Bewahren von Identität als eine der wichtigsten Aufgaben des Menschen im (post-)modernen Zeitalter gilt. Angesichts gesellschaftlicher Umbrüche, die durch den Verlust traditioneller Rollen, verbindlicher Werte und stabiler Sozialgefüge gekennzeichnet sind, ist „Identitätsarbeit“ heute in den Bereich persönlicher Zuständigkeit verwiesen.3 Neben dem Streben nach Anerkennung wächst zugleich das Bedürfnis nach wiederzugewinnenden Gemeinschaften, seien sie selbstgewählt oder vorgegeben. „Identität“ markiert so den Fluchtpunkt aller Bemühungen, sich selbst – und andere – in Zeiten variabler Lebensentwürfe und Zusammenschlüsse zu lokalisieren.
Die zitierten Ausschnitte aus dem Grundsatzpapier des Deutschen Musikrats fügen sich in diese Tendenz ein. Bei genauerer Betrachtung erweist sich freilich, dass mit dem, was hier als „Identität“ bezeichnet wird, durchaus unterschiedliche Bedeutungen und Bezüge aufgerufen werden. Dies betrifft zuerst die Frage, wem Identität zugesprochen bzw. für wen sie beansprucht wird: Während die Präambel eine Identität „unserer Gesellschaft“ postuliert und zentrale Bedingungen für deren Fortbestehen aufstellt, bezieht sich der nachfolgend herausgegriffene Passus auf die „eigene Identität“ des einzelnen Menschen, mit der er an den ihn umgebenden kulturellen Angeboten teilhaben solle. Was unter „Identität“ zu verstehen ist, bleibt jeweils abstrakt. Dass sie grundsätzlich positiv besetzt ist, ergibt die Gleichstellung, womöglich Gleichsetzung, mit weiteren Zielen wie „Zusammenhalt und Zukunftsfähigkeit“ der Gesellschaft. Gilt eine solch kollektive Form von Identität offenbar nicht als selbstverständlich, sondern abhängig von Erhalt und Stärkung kultureller Praxen und künstlerischer Artefakte, wird die Identität von Individuen dagegen als natürlicher Besitz deklariert. Doch erst durch kulturelle Integration und Involviertheit mag sie, so könnte die zweite Aussage interpretiert werden, „kultiviert“, ihrerseits gesellschaftsfähig werden.
In beiden Fällen wird „Kultur“ eine entscheidende Wirkung für die Ausbildung und Pflege von Identitäten zugeschrieben. Auch dieser Begriff ist wiederum aufgeladen mit umfangreichen Bedeutungen, die vielfältige Assoziationen ausstrahlen. Je nach Verständnis kann er rein ethnisch fundiert sein, die Praxen und Werke künstlerischer Produktion und Rezeption bündeln oder gar auf alle Bereiche menschlichen Lebens ausgreifen. Doch auch wenn man, wie es in Hinblick auf die hauseigene Agenda des Deutschen Musikrats naheliegend ist, das weitläufige kulturelle Feld auf musikalisches Terrain eingrenzt, bleiben Fragen: Welche Zusammenhänge zwischen Musiken, Musikkulturen und Identitäten bestehen tatsächlich? Und welche Aufgaben musikalischer Bildung können bzw. sollen sie begründen?
Wechselspiele musikalischer Identitäten
Jenseits rhetorisch-argumentativer Verknüpfungen von Musik, Kultur und Identität haben sich nationale und internationale Diskurse etabliert, die ihr Wechselspiel zum leitenden Paradigma erheben, um die Beziehungen zwischen Menschen und Musiken zu beschreiben. Sie werden vornehmlich geprägt durch die angloamerikanische Forschung. Das Handbook of musical identities, 2017 prominent bei Oxford University Press erschienen, führt Perspektiven aus Musikpsychologie, Musiksoziologie, Musikethnologie, Musikpädagogik und weiteren Disziplinen zusammen.4 Weniger ein systematisches Kompendium als eine Sammlung von Erträgen empirischer Studien der verschiedenen Fächer, offenbart es vieldimensionale Zugriffe auf diese Beziehungen und ihre Facetten. Das weit auskragende Dach des Identitätsbegriffs beherbergt ein breites Spektrum an Themen: von der Bedeutung des Umgangs mit Musik in wechselnden Lebensphasen über die musikalische Ausprägung regionaler und soziokultureller Vergemeinschaftungen bis hin zur gesundheitlichen und therapeutischen Wirkung von Musik. Alle diese Zugänge erschließen einen je spezifischen Stellenwert von Musik für Identitäten individuellen oder kollektiven Zuschnitts, in solcher Funktion auch zusammenfassend bezeichnet als „music in identities“.
Demgegenüber zielt die Umkehrung der Begriffskomposition, „identities in music“, auf die persönliche Auswahl musikalischer Angebote und Aktivitäten sowie die musikalischen Rollen, die eine Person einnimmt. Besondere Prägekraft scheint dabei den formellen musikbezogenen Kontexten zuzukommen, in denen Menschen sich bewegen und an denen sie sich orientieren – speziell Bildungsinstitutionen wie Schule, Musikschule oder Musikhochschule. Die Entfaltung von musikalischen Selbstbildern und Selbstkonzepten wird den angeführten Studien zufolge hier entscheidend beeinflusst – ein Hinweis auf die Relevanz pädagogischer Umgebungen und musikunterrichtlicher Settings für die eigene musikalische Lebensgestaltung von SchülerInnen oder Studierenden.
Die Frage aber, was „musikalische Identitäten“ denn auszeichne, wird nicht abschließend geklärt. Vielmehr erläutern die Herausgeber in der Einleitung, dass sich das Verständnis des Begriffs in den vergangenen Jahren eher geweitet denn konkretisiert habe.5 Musikalische Identitäten gelten etwa als sozial ausgehandelt, performativ artikuliert oder narrativ konstruiert. Die unterschiedlichen Ansätze zu ihrer Beschreibung – hier die psychologische Vermessung ihrer individuellen Formen, die Betrachtung allgemeiner Entwicklungsprozesse oder Untersuchungen zur Bedeutung von Musik in ethnisch-geografischen Gemeinschaften – bezeugen jedoch vor allem eines: wie das Identitätskonzept von verschiedenen musikbezogenen Disziplinen, Forscherinnen und Forschern für die je eigenen Anliegen zugerichtet wird. Angesichts der Variabilität seiner Konturen aber ist es letztlich kaum möglich, zur Deckung zu bringen, was es jeweils umfasst.
Pädagogische Intentionen
Selbst wenn empirisch bestimmbar wäre, was Identität sei (zumal wenn sie als kulturelle oder musikalische apostrophiert ist), dürfte dies allein nach didaktischem Verständnis noch keine Ausrichtung von Musikunterricht begründen. Pädagogische Maßgaben sind grundsätzlich präskriptiv. Nun scheint zwar die jeweilige Auffassung darüber, was Identitäten in ihren musikalisch-kulturellen Ausformungen ausmache, tatsächlich normativ grundiert, jedoch häufig eher im Verborgenen. So gesehen kennzeichnet eine spezifische Begriffsverwendung bestimmte kulturpolitische oder pädagogische Intentionen, die sich womöglich in der Anlage und Gestaltung von Musikunterricht verwirklichen. Wie verschiedene Vorstellungen von Identität einen Musikunterricht flankieren und legitimieren können, lässt sich im Rückgriff auf das Papier des Deutschen Musikrats beispielhaft andeuten:
Ein Unterricht, der sich primär der „Förderung des Kulturellen Erbes“ verpflichtet sieht, mag vor allem musikalische Kulturgüter in den Mittelpunkt stellen, die aus ästhetischen oder historischen Erwägungen heraus bewahrenswert scheinen – seien es die geografisch als eigen erachteten oder auch diejenigen von „Kulturen anderer Länder“. Er beruft sich auf Traditionen, die möglicherweise gemeinsame Identität stiften können. Auch wo er „zeitgenössische“ und „populäre“ Musiken mit einbezieht, möchte er insbesondere dazu beitragen, den kulturellen Reichtum der Gemeinschaft zu mehren und zu sichern.
Ein Musikunterricht dagegen, der vorrangig die „eigenen Identitäten“ seiner TeilnehmerInnen im Blick hat, wird sich verstärkt an den individuellen Bedürfnissen von Schülerinnen und Schülern ausrichten. Besteht seine Aufgabe darin, sie an Musikkultur(en) teilhaben zu lassen, so unterbreitet er verschiedene kulturelle Angebote und befähigt sie, sich selbst musikalisch auszudrücken und einzubringen. Ein solcher Unterricht in Musik ermöglicht, innerhalb der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen und Praxen die eigene musikalische Identität zu entwickeln und zu gestalten.
Welchen Nutzen der Identitätsbegriff für die Beschreibung und Begründung musikalischer Lehr-Lern-Prozesse hat, muss sich stets im Einzelnen erweisen. Um Missverständnissen vorzubeugen und implizite Vorannahmen und Normen offenzulegen, scheint es in jedem Fall angeraten, den zugrundeliegenden Begriffsgebrauch zu erläutern und zu reflektieren.
1 Deutscher Musikrat: Musikalische Bildung in Deutschland. Ein Thema in 16 Variationen, Berlin 2012, www.miz.org/dokumente/2012_DMR_Grundsatzpapier_Musikalische_Bildung.pdf, S. 5 (Stand: 25.7.2018).
2 ebd., S. 6.
3 vgl. etwa Heiner Keupp/Renate Höfer (Hg.): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, Frankfurt am Main 1997.
4 Raymond A. R. MacDonald/David J. Hargreaves/Dorothy Miell (Hg.): Handbook of musical identities, Oxford 2017.
5 vgl. David J. Hargreaves/Raymond A. R. MacDonald/ Dorothy Miell: „The changing identity of musical identities“, in: ebd., S. 3-23.
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 5/2018.