Lohse, Marc

Verändern statt verzweifeln

Mit variantenreichem Üben zu abwechslungsreichem Musizieren

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 6/2024 , Seite 30

Im Unterricht und beim Üben bewegen wir uns oft auf ausgetretenen Lernpfaden. Warum es sich lohnen kann, von diesen bewusst abzuweichen und vermeintliche Umwege zu wagen, beleuchtet der folgende Artikel anhand von Beispielen aus dem Anfangsunterricht Klavier.

Neulich führte ein Gespräch in der Mensa mit meinen Mitstudierenden zur griechi­schen Sagengestalt Sisyphos. Analog zu seinem nie endenden Bergaufrollen des Felsbrockens fühlten wir oft dieselbe ermüdende, teils sinnlose Repetition beim Üben auf einem klar vorgegebenen Weg. Tagtäglich werden stundenlang fundierte Interpretationen erarbeitet, wird an der Technik gefeilt. Monate- oder gar jahrelang bereite ich mich auf diesen einen Auftritt vor, nur um am Ende wieder Fehler zu machen und doch keine Perfektion zu erreichen.
Selbstverständlich: Im nachfolgenden Unterricht wird gelobt und kurz innegehalten, um Fortschritte wertzuschätzen. Gleichzeitig hängen Abweichungen vom Interpretationsideal und der niemals endende Prozess der Weiterentwicklung eher als bedrohliches Damokles-Schwert über unseren Köpfen, anstatt optimistischer, motivierender Ausblick zu sein.
Je besser man wird, umso mehr Möglichkeitsräume tun sich auf, welche das Gefühl entstehen lassen, auf ein Mal weniger zu können und nicht gut genug zu sein. Und da man nie auslernt, ist auch kein Endpunkt in Sicht. In den Worten einer meiner Schülerinnen: „Wow, ich dachte mein letztes Stück ist das schwerste, was ich je gespielt habe, aber das neue ist ja noch viel schwieriger.“
Mir selbst ging in der Vergangenheit gelegentlich der Spaß am eigenen Musizieren und auch am Unterrichten abhanden. Wie ein Computer, der nur Nullen und Einsen kennt, unterschied ich bei mir und meinen SchülerInnen nur zwischen richtig und falsch. Letzteres nahm überhand und meine Unzufriedenheit wuchs. Ich begann mich zu fragen, wie ich mein Üben und Unterrichten zielführender und vor allem sinnstiftender gestalten könnte. Wie vermeide ich Fehler? Muss ich das überhaupt? Und was bedeutet das für mein eigenes Unterrichten?

Den Blickwinkel ändern

Fehler, also Abweichungen von einem angestrebten Ideal, geschehen beim Musizieren sehr häufig. Das Prinzip des Differenziellen Lernens aus der Sportwissenschaft,1 welches zunehmend Eingang in die Musikpädagogik findet,2 basiert sogar darauf, dass gerade die Abweichungen für Lernfortschritt verantwortlich sind und nicht die immer gleiche Wiederholung (bzw. das so genannte Einschleifen) des angestrebten Ideals.3 Für meine pädagogische Bachelorarbeit recherchierte ich zur Bedeutung des Differenziellen Lernens für das Musizieren und versuchte, diese Denkweise in mein eigenes Üben einzubringen. So begann ich, meinen Blickwinkel zu ändern. Anstatt zu denken: „Schon wieder nicht so, wie ich wollte!“, analysierte ich: „Was sagt diese Abweichung aus? Kann sie mich näher zu meinem Ideal bringen?“ Diese neue Herangehensweise nutze ich auch beim Unterrichten.
Fehler sind eine faszinierende methodische Ressource, passieren sie doch allen Musizierenden immer wieder und treten an den unterschiedlichsten Stellen auf. Doch anstatt einen Fehler vermeiden zu wollen, kann es hilfreich und aufschlussreich sein, mit dem Fehler zu experimentieren und sein Lernpotenzial zu nutzen.4 Fehler laden zum Spiel mit Varianten ein.

Tonleitern
Einer meiner Klavierschüler übte die C-Dur- Tonleiter über eine Oktave aufwärts. Immer wieder wich er vom vorgegebenen Fingersatz (NB 1, Takt 1) ab. Da dieser Fingersatz aber für ihn als Ideal-Modell galt, stoppte er, sobald er den Daumenuntersatz zu früh oder zu spät ausführte, und startete die Tonleiter kopfschüttelnd von vorne. Nachdem wir nur stockend vorankamen, ermutigte ich ihn, die Tonleiter immer zu Ende zu spielen, egal mit welchem Fingersatz. Nun gelang es ihm jedes Mal, die Tonleiter in Gänze zu spielen – ein erstes Erfolgserlebnis. Dann versuchte ich, seine vermeintlichen Fehler als Lernva­rianten zu nutzen: Schafft er es, die Tonleiter ausschließlich mit Daumen und Zeigefinger (NB 1, Takt 2) zu spielen? Die erste Skepsis wandelte sich beim Ausprobieren in ein freudiges „Hey, das klappt ja auch“.

1 vgl. Schöllhorn, Wolfgang/Henz, Diana/Horst, Fabian: „Differenzielles Lernen als Turbo für Körper und Gehirn – Teil 1: Eine Zwischenbilanz“, in: Leistungssport, Heft 1, 2017, S. 19-24.
2 vgl. Widmaier, Martin: Zur Systemdynamik des Übens. Differenzielles Lernen am Klavier, Mainz 2016.
3 vgl. Schöllhorn, Wolfgang: „Übe niemals das Richtige, um richtig gut zu werden“, in: European Piano Teachers Association (Hg.): EPTA-Dokumentation 2017/2018 „Klavier und Bewegung“, Düsseldorf 2019, S. 50-57.
4 vgl. Kruse-Weber, Silke (Hg.): Exzellenz durch differenzierten Umgang mit Fehlern. Kreative Potenziale beim Musizieren und Unterrichten, Mainz 2012.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2024.