Rüdiger, Wolfgang
Verbundensein in Räumen der Musik
75-jähriges Bestehen der Musikschule Freiburg: Uraufführung von Christian Billians „rooms“ für großes Orchester, Ensemblegruppen, Chor, Kinderchor und SolistInnen
Welch ein Fest der Begegnung auf dem Vorplatz der Musikhochschule, die der Musikschule Freiburg zur Feier ihres 75-jährigen Bestehens am 22. März 2025 ihre Räume zur Verfügung stellt – und welch ein Sog, der die BesucherInnen aus dem Alltagsleben nahtlos in den Raum der Kunst führt. Durch Flüstertüte angekündigt, setzt im Gewimmel des Foyers eine durchgestaltete zehnminütige Performance von fünf „Raummusiken“ und fünf szenischen Aktionen ein, die das Publikum sofort in den Bann und weiter in den Konzertsaal der Hochschule zieht, wo wenig später die Uraufführung von rooms beginnt, einer ergreifenden „Sinfonia“ für Orchester, im Raum verteilte Ensemblegruppen, SprecherInnen, Sänger, Chöre von ca. vierzig Minuten Dauer – „Sinfonia“ im Wortsinn als Zusammenklingen unterschiedlichster Stimmen und Stile, Rhythmen und Räume, Zungen und Zeiten.
Über 200 SchülerInnen, Lehr- und Leitungskräfte, SolistInnen, Sänger- und Instrumentengruppen vereint das Werk des Komponisten, Gitarrenlehrers und Bandleaders Christian Billian zu einem Ereignis der Verbundenheit in einer Musik, die etliche Genres zusammenführt und Menschen in emotionale Bewegung versetzt. So taucht man zu Beginn im bläulich abgedunkelten Konzertsaal tief ein in die Atmosphäre elementaren menschlichen Verbundenseins, die der siebenminütige „kosmische“ Prolog aus dem Dunkel elektronischer Zuspielklänge mit instrumentalen Live-Improvisationen – wie der Solovioline in höchsten Höhen – heraufbeschwört. In diesem suggestiven Klangraum kommt man als Hörer ganz zu sich, erspürt die atmende Präsenz der anderen und erahnt die Botschaft: Sei du selbst, du hast ein Recht auf deinen Raum in Verschränkung mit den Räumen anderer.
Wenn nach der Meeres-Atmo dann das Licht angeht, so beginnt unter der musikalischen Gesamtleitung des stellvertretenden Musikschulleiters Jürgen Burmeister, mit Direktor Eckhard Hollweg, Christian Billian und Martina van Lengerich (Mädchenkantorei der Domsingschule) als Co-Dirigierenden, der erste Akt einer großen musikalischen Erzählung von Einzelnem und Gemeinschaft, Selbst-Ausdruck und Sozialität, Für-sich-Einstehen und Aufeinander-Eingehen. Und was sich eingangs in der Bandbreite von dunkler Tiefe und hellster Höhe, Zuspiel und Instrumenten, Zitat und Geflüster geheimnisvoll aufgespannt hat, entfaltet sich in eine Fülle unterschiedlichster Räume in Stil und Spiel, Stimme und Stille, Strenge und Freiheit. In mehreren Wellenbewegungen finden dabei zunächst verstreute Einzelereignisse zu kollektiven Formen wie pulsierendem Sprechgesang, Doppelfuge und verrauschender Textur zusammen und kulminieren in überwältigenden Tuttiklängen.
Dass eine solche Feier von Vielfalt und Verschiedenheit nicht auseinanderfällt, sondern wie aus einem Guss erscheint, gründet im Formgespür des Komponisten Christian Billian, der höchst gekonnt mit Techniken und Materialien arbeitet, die Einheit in der Vielheit stiften. Ein Zauberspruch der Kinder und ein konstitutives Quintmotiv auf Grundton d, das an das Thema von Bachs Kunst der Fuge erinnert (d-Moll zudem als pragmatisches Tonmaterial für alle Instrumente), bilden die beiden Leitmotive, die in etlichen Varianten wiederkehren und bei aller Verwandlung stets erkennbar bleiben: das Quint-Thema als Big-Band-Jazz, als Augmentationskanon, als Orchesterfuge, als Bläserquintett, im Solo-Gesang etc.; das „Widde, widde, witt, witt“ durch unterschiedliche musikalische Räume zwischen Vertraut und Unvertraut wandernd. Musikalische Erlebnisräume aller HörerInnen von Jung bis Alt werden so verbunden: Barockmusik (Zitat Vivaldis Doppelkonzert d-Moll) trifft auf zeitgenössische Klänge, Jazz/ Rock/Pop meets Requiem (Händels Arie Lascia ch’io pianga), Romantik, Geräusch, Schönklang reichen sich die Hand.
Das Konzept der Verknüpfung heterogener Stile und Zeiten leitet auch die Auswahl und Verarbeitung des Textmaterials: Zitate aus Virginia Woolfs Essay A Room of One’s Own von 1929 als Dokument weiblicher Selbstermächtigung und aus der Zeit der Hexenverfolgungen im 16./17 Jahrhundert als Mahnmal für die Auslöschung selbstbestimmten Lebens werden je nach Inhalt vokalmusikalisch experimentell bis elementar und schutzlos expressiv umgesetzt.
Und wenn gegen Ende, im Goldenen Schnitt des Werks, eine letzte mächtige Tuttiwelle anrollt, in aufsteigenden Kaskaden sich auftürmt und mit dem Chor-Bekenntnis „no need to be anybody but oneself“ fortissimo in eine Generalpause mündet, dann ist der Höhe- und Wendepunkt von rooms erreicht. Aus der Stille aber erhebt sich ein zu Herzen gehendes schlichtes Lied, das Sopranistin Chiara Kilchling mit höchster Innigkeit singt: „Standing here alone […] Speaking for my own“ – d-a-g-a-f-d im langsamen Dreiertakt; Grundmotiv und magischer Moment, in dem die Einzelne als Einzelne hervortritt und für sich einsteht in aller Zartheit und Verletzlichkeit – Trost und Ermutigung, Herzstück und Nucleus, Ausgangs- und Zielpunkt in eins. Und wenn dies instrumental aufgenommen und beantwortet wird, zunächst von Gitarre, Harfe, Flöte, dann von den verschiedenen Orchestergruppen, quasi weitergetragen in die Außenwelt als Appell von Selbstwirksamkeit im freien „Mit-ein-Ander“, und zu einem letzten großen Aufstieg führt als Topos von Erlösung (à la Mahler), um mit individuellen Atembögen summend auf d auszuklingen, dann vermag dieser utopisch schöne Schluss ein Stück Frieden in unsere friedlose Welt zu zaubern – und die HörerInnen beglückt mit dem kostbaren Lied auf den Lippen und im Herzen zu entlassen. So schön kann Musik sein, so erfüllend menschliches Miteinander, so großartig Musikschule als Bildungsraum gelebter Demokratie, in dem SchülerInnen zu sich selbst und zu anderen finden und gemeinsam Unglaubliches auf die Beine stellen!
Nach Aufführung und vor Buffet haben die Götter Reden gesetzt: von Eckhard Hollweg für die Musikschule, Hochschulrektor Ludwig Holtmeier („Musikschule und Musikhochschule sind im Kreislauf musikalischer Bildung miteinander verbunden“), LVdM-Präsidentin Marion Gentges, Schulbürgermeisterin Christine Buchheit (von der man sich ein klareres Bekenntnis zu einem eigenen Haus der Musikschule Freiburg gewünscht hätte, auch dies ein Motiv von rooms) und Dafni Ben Ozar, Direktorin des befreundeten Music Center Tel Aviv-Yafo als Repräsentantin internationaler Freundschafts- und Wirkungsräume der Musikschule Freiburg, die mit Billians rooms einen bejubelten Höhepunkt ihrer Geschichte erleben durfte.
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