Herbst, Sebastian
Videobasierte Intervision
Kollegiale Reflexion der musizierpädagogischen Praxis an Musik(hoch)schulen
Unterrichten ist ein hochkomplexer mehrdimensionaler Prozess. Diesen zu jedem Zeitpunkt analytisch zu beherrschen, ist nicht möglich. Pädagogisches Handeln muss sich daher zwingend zwischen bewussten Entscheidungen und automatisierten Routinehandlungen bewegen. Damit ist es jedoch auch anfällig für Unsicherheiten, Ungenauigkeiten und Fehlentscheidungen, die aber – systematisch aufgearbeitet – für die Weiterentwicklung des eigenen pädagogischen Handlungsrepertoires fruchtbar gemacht werden können. Eine Möglichkeit dazu bietet die videobasierte Intervision als kollegiales Beratungsformat.
Musikschule und Unterricht zeichnen sich durch widersprüchliche Anforderungen an das eigene Handeln aus. Hinzu kommt, dass Lehrende insbesondere „unter großen Belastungen manchmal automatisch, emotional, stereotypisierend und unbewusst auf schwieriges Schülerverhalten [reagieren]. Deshalb ist es wichtig, das eigene Handeln immer wieder zu reflektieren, neue Sichtweisen zu entdecken, Handlungsalternativen im Hinblick auf die partikuläre pädagogische Situation abzuwägen und somit die Möglichkeiten des sozialen Handelns zu erweitern.“1 So kommt der Reflexion eine zentrale Rolle in der Lehrerbildung und im pädagogischen Berufsalltag zu, denn „Reflexion kann helfen, automatische und stereotypische Reiz-Reaktionsmuster zu durchbrechen“.2
Reflexion als Schlüsselkompetenz professionellen Handelns und die Forderung einer reflexiven Lehrerbildung sind zentrale Gedanken der Aktionsforschung,3 die den Schwerpunkt auf die Ausarbeitung forschender Reflexivität als professionelles Handeln von Lehrenden legt.4 Sie will Lehrenden als „reflective practitioner“5 ermöglichen, Herausforderungen der Praxis durch die Entwicklung von Handlungsalternativen selbst zu bewältigen, Innovationen durchzuführen und diese selbst zu überprüfen.6 Ihr Ziel ist die Professionalisierung von Lehrenden, die sich nicht auf ihre beruflichen Routinen und rezepthaftes Handeln beschränken,7 sondern mit einer forschenden Haltung in nicht-standardisierbaren und durch Antinomien geprägten Unterrichtssituationen handlungsfähig bleiben.8 „Unterrichten wird [so] zum Forschen, zu einem Prozess des Beobachtens und Analysierens, des Ergründens und Enthüllens, Unterrichten bedeutet [dann], ständig im ‚reflektierenden Gespräch mit einer einzigartigen und unsicheren Situation‘ zu sein.“9
Donald A. Schön10 unterscheidet dazu zwei Reflexionstypen: reflection-in-action und reflection-on-action, also zum einen die Reflexion in der Unterrichtssituation und zum anderen die Reflexion über das unterrichtliche Handeln in handlungsentlasteten Räumen – auf Letzterem liegt im Rahmen dieses Beitrags der Fokus. Bei der Reflexion über die Handlung werden als herausfordernd erlebte Situationen aus der beruflichen Praxis von den Lehrenden selbst aufgegriffen, in einem Datenmaterial (hier: Videomaterial) vergegenständlicht und aus einer Distanz reflektiert. Durch die Einnahme verschiedener Perspektiven auf die Situation kann rückblickend die Entwicklung einer „praktischen Theorie“ erfolgen, denn es ist eben „nichts […] praktischer als eine gute Theorie“.11 Es geht jedoch nicht zwingend um das Herbeiführen von verbesserter Praxis, sondern um die Entwicklung von Handlungsalternativen, die dann in einer professionellen Gemeinschaft mit „critical friends“ diskutiert und im zirkulären Ablauf von Reflexion und Aktion überprüft werden können.
Intervision als Ort zur Reflexion musizierpädagogischer Praxis
Als möglicher Ort zur mehrperspektivischen Betrachtung eigenen Handelns sowie zur Entwicklung von Handlungsalternativen bietet sich die Intervision als Reflexions- und Beratungsformat an, deren Ziel die Generierung neuer Sichtweisen (vision) durch den Austausch zwischen Kolleginnen und Kollegen (inter) ist. An dieser Stelle wird bewusst nicht auf den Begriff des kollegialen Austauschs zurückgegriffen, da mit dem Begriff der Intervision „die kollegiale Intermediarität in der Entwicklung neuer Sichtweisen zum Ausdruck kommt und anders als in der Kollegialen Beratung die Abgrenzung zur informellen ‚Tür-und-Angel-Beratung‘ einerseits und zur Fall-, Projekt- und Teambesprechung/ -beratung andererseits terminologisch deutlicher wird“.12
Im Mittelpunkt der Intervision steht eine methodisch strukturierte Beratung unter fachkompetenten Kolleginnen und Kollegen zu individuellen beruflichen Fragestellungen der Gruppenmitglieder, sodass kollegialer Rückhalt und Unterstützung durch Hilfsbereitschaft, gegenseitige Entlastung sowie den Austausch von Erfahrungswissen zur neuen Wissensgenerierung grundlegende Bestandteile sind. Intervision ist damit eine Form selbstorganisierten Lernens zur fallbezogenen Problemlösung mit dem Ziel der persönlichen Wahrnehmungserweiterung sowie der Entwicklung von Problemlöse- und Beratungskompetenz,13 in dessen Rahmen es nicht zuletzt zur kritischen Auseinandersetzung mit den „Möglichkeiten und Grenzen einer Theorie bzw. eines Modellansatzes“14 kommen kann.
Als „systematisches Beratungsgespräch, in dem Kollegen und Kolleginnen sich nach einer vorgegebenen Gesprächsstruktur wechselseitig zu professionellen Fragen und Schlüsselthemen ihres Berufsalltages beraten und gemeinsam Lösungen entwickeln“,15 erfährt Intervision in vielen Arbeitsbereichen immer größere Beachtung.16 Dabei kann Intervision nicht nur innerhalb einer Organisation, sondern auch in Kooperationen zwischen verschiedenen Organisationen durchgeführt werden. Wichtig ist jedoch, dass die Gruppe durch eine Zusammenstellung von Gleichrangigen in einem gemeinsamen beruflichen Kontext und mit einem gemeinsamen Interessenshintergrund gekennzeichnet ist (z. B. Musikschullehrende), die freiwillig, aber über einen vereinbarten Zeitraum verbindlich an der Intervision teilnehmen, wobei jede Person eine Frage, eine Problemstellung, einen Fall einbringen kann.17 Die Zusammenarbeit erfolgt dann unter Einhaltung einer gemeinsam festgelegten Struktur in einem zielgerichteten Prozess, im Rahmen dessen Lösungen erarbeitet werden. Dieser Prozess bietet die Möglichkeit, dass sowohl die falleinbringende Person als auch die beratenden Personen für sie relevante neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten erfahren und dazugewinnen können.
1 Alexander Wettstein/Marion Scherzinger: Unterrichtsstörungen verstehen und wirksam vorbeugen, Stuttgart 2019, S. 66.
2 ebd.
3 vgl. Kurt Lewin: „Action research and minority problems“, in: Kurt Lewin/Gertrud Weiss Lewin (Hg.): Resolving social conflicts, New York 1946, S. 201-226; vgl. Heinz Moser: Aktionsforschung als kritische Theorie der Sozialwissenschaften, München 1975; vgl. Heinz Moser: „Aktionsforschung unter dem Dach der Praxisforschung. Methodologische Herausforderungen und Lösungsansätze“, in: Hella von Unger/Michael T. Wright (Hg.): „An der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis“. Dokumentation einer Tagung zu partizipativer Forschung in Public Health, Discussion Paper SPI 2007-307, Berlin 2008, S. 58-66; vgl. Alfred Nagel: Aktionsforschung, Gesellschaftsstrukturen und soziale Wirklichkeit. Zum Problem der Vermittlung von Theorie und Praxis im sozialwissenschaftlichen Forschungsprozess, Frankfurt a. M. 1983; Herbert Altrichter/Peter Posch: Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht, Bad Heilbrunn 2007.
4 vgl. Andreas Feindt: Studentische Forschung im Lehramtsstudium. Eine fallrekonstruktive Untersuchung studienbiografischer Verläufe und studentischer Forschungspraxen, Opladen 2007, S. 60.
5 Donald A. Schön: The Reflective Practitioner. How Professionals think in action, London 1983; vgl. Donald A. Schön: Educating the reflective practitioner. Toward a new design for teaching and learning in the professions, San Francisco 1987.
6 vgl. Altrichter/Posch, S. 13 f.
7 vgl. Hildegard Urban-Woldron: „Aktionsforschung in der Lehrerbildung“, in: Erziehung und Unterricht, März/ April 3-4/2013, S. 232.
8 vgl. Mandy Schiefner-Rohs: „Forschendes Lernen in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Möglichkeiten der Verbindung zwischen Hochschule und Schule sowie Theorie und Praxis“, in: Peter Tremp: Forschungsorientierung und Berufsbezug im Studium. Hochschulen als Orte der Wissensgenerierung und der Vorstrukturierung von Berufstätigkeit, Bielefeld 2017, S. 180.
9 Peter Röbke: „Eine kurze Geschichte der Musikschule und ihrer Lehrenden“, in: Barbara Busch (Hg.): Grundwissen Instrumentalpädagogik. Ein Wegweiser für Studium und Beruf, Wiesbaden 2016, S. 421.
10 vgl. Schön, The Reflective Practitioner.
11 Anne Niessen: „Nichts ist praktischer als eine gute Theorie. Vom möglichen Nutzen wissenschaftlicher Theorien für den Musikunterricht“, in: Afs-Magazin Musikpädagogik 30/2010, S. 12.
12 Wolfgang Kühl/Erich Schäfer: Intervision. Grundlagen und Perspektiven, Wiesbaden 2020, S. 5.
13 ebd., S. 19 f.
14 Eric D. Lippmann: Intervision. Kollegiales Coaching professionell gestalten, Berling 2013, S. 19.
15 Kühl/Schäfer, S. 45.
16 ebd., S. 1.
17 Lippmann, S. 15 ff.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2020.