Riese, Astrid
Viele Wege führen nach draußen…
Klavierunterricht hinter Gittern. Ein Tagebuch
Durch einen Stifter wurde ein besonderes Projekt möglich: Eine Musikschullehrerin wurde eingeladen, in einer Justizvollzugsanstalt (JVA) für Frauen Klavier zu unterrichten. Die sehr detaillierten Tagebuchaufzeichnungen der engagierten Pädagogin beginnen im Februar 2006 und enden im April 2007. Das Ende ist offen, man erfährt nicht, ob das Projekt noch läuft oder wieder eingestellt wurde.
Die Form des Tagesbuchs lässt neben den ausführlichen Unterrichtsprotokollen auch außermusikalische Themen zu. Da wird die ganze Logistik eines Gefängnisses geschildert. Es gibt nicht wenige Probleme bei der Auf- und Zuschließerei: Die Schülerinnen kommen bisweilen nicht pünktlich zum Unterricht, weil sie niemand aus ihrem Flur herausließ. Und auch die Lehrerin muss oft darum kämpfen, herein- oder wieder herausgelassen zu werden. Die Frage der Qualität des Unterrichtsinstruments und die Übemöglichkeiten für die erwachsenen Schülerinnen aller Altersstufen nehmen immer wieder Raum ein.
Das Klientel ist nicht einfach strukturiert, jede der Einsitzenden hat natürlich eine Vorgeschichte. Astrid Riese berichtet sehr offen von den Gesprächen mit den Gefangenen und von den Schwierigkeiten, persönliche Beziehungen aufzubauen. Die musikalischen Vorkenntnisse bewegen sich zwischen Null und schon recht fortgeschrittenem Können.
Nicht für jede der Frauen ist Klassik der richtige Weg, die versierte Lehrerin bietet hier ausreichende Alternativen an. Die Auswahl der Anfängerstücke unterscheidet sich kaum von denen von Kindern: Die Titel sind im Buch genannt und man erkennt die pädagogischen Ziele. Es bieten sich bald erste Möglichkeiten für vierhändiges Musizieren an, kleine Vorspiele innerhalb der Mauern werden organisiert und durchgeführt. Astrid Riese spielt dabei auch selbst oder bringt Schülerinnen aus der Musikschule mit. Konzerte innerhalb der JVA mit auswärtigen Künstlern gibt es auch bisweilen, die Autorin berichtet sogar von einer Aufführung der Zauberflöte.
Die Regelmäßigkeit des wöchentlichen Unterrichts wird immer wieder unterbrochen: Die Schülerinnen haben bisweilen strengere Haftauflagen, mal sind sie indisponiert, manchmal überraschenderweise bereits entlassen. Die Fluktuation ist größer als an einer Musikschule, die Nachfrage aber immer wieder erfreulich groß. Es gelingt da und dort, Keyboards in die Zellen stellen zu können, um ein regelmäßiges Üben zu ermöglichen. Mitwirkungen in den internen Gottesdiensten können nach entsprechenden Fortschritten eingeplant werden.
Das Tagebuch berichtet immer wieder von sehr erfreulichen Momenten und Szenen, es gibt aber auch reichlich Enttäuschungen: Wer an einem solchen Platz arbeitet, muss eine gewisse Gelassenheit und innere Ausgeglichenheit mitbringen. Ein Fazit zieht Astrid Riese nicht. Vielleicht ist sie ja noch mittendrin.
Wolfgang Teubner