Birtel, Wolfgang

Vielversprechende Zukunft

Die Notationssoftware „Dorico“ beeindruckt durch ein neues, richtungsweisendes Konzept

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 3/2017 , musikschule )) DIREKT, Seite 05

Der Markt für professionelle Notationssoftware ist klein. Wenn es ein Programm sein sollte, das hohen Layout-Ansprüchen gerecht wird und einen großen Umfang an Werkzeugen bereithält, standen bislang nur zwei Programme zur Wahl: Finale (MakeMusic) und Sibelius (Avid). Wie schwierig es ist, in diesem Software-Segment wirtschaftlich zu operieren, zeigten immer wieder einmal Meldungen und Gerüchte über Turbulenzen, in die die beiden Giganten (angeblich) geraten waren.

Wie ein Paukenschlag schlug 2012 die Mel­dung ein, dass Avid sein Londoner Sibelius-Büro wegen „Umstrukturierung“ schließen werde. Das komplette Entwickler-Team stand auf der Straße und wurde wenig später vom Hamburger Unternehmen Stein­berg, spezialisiert auf digitale Audio-Bearbeitung (mit dem Flaggschiff Cubase) eingestellt – mit der Aufgabe, eine neue Notationssoftware zu entwickeln.
Finale und Sibelius, seit 1989 bzw. 1993 auf dem Markt, Paroli zu bieten, war eine unglaubliche Herausforderung. Das Projekt stand sicherlich auch unter erheblichem Zeitdruck, denn die Entwicklungsinvesti­tion musste sich lohnen, möglichst viele Finale- oder Sibelius-Nutzer sollten zum neuen Konkurrenten gezogen werden.

Hohe Erwartungen

Seit Oktober 2016 ist die neue Notationssoftware Dorico auf dem Markt, benannt nach einem berühmten italienischen Buch- und Notendrucker des 16. Jahrhunderts. Die Erwartungen an die neue Software waren sehr hoch, befeuert durch den Zorn der Sibelius-User über die Entwicklung bei Avid und durch den Blog der Firma Steinberg, der über Schritte, Schwierigkeiten und Lösungen permanent berichtete. Zudem versammelte sich bei den bisherigen Sibelius-Entwicklern ein enormes Wissen in Notations- und Programmierfragen. Die Reaktionen auf die erste veröffentlichte Version waren durchweg positiv, aber auch kritisch, da wichtige und unverzichtbare Funktionen noch fehlten: Eigentlich war Dorico 1.0 noch im Entwickler- bzw. Beta-Status und zu früh auf dem Markt.
Bis Anfang März 2017 sind drei Updates veröffentlicht worden, die Wesentliches nachgeliefert haben; weitere Ergänzungen und Verbesserungen sind versprochen und dringend notwendig, denn – um nur ein paar Beispiele zu nennen – auf die Möglichkeit, Klammer 1/Klammer 2, Akkord-Symbole oder Stichnoten in Stimmen zu setzen, wird man schwerlich verzichten können. Andererseits verspricht das Umsetzungstempo der Dorico-Entwickler baldige Besserung.

Sauber, klar, übersichtlich

Startet man Dorico über den „Steinberg Hub“, kann man bestehende Projekte öffnen oder neue anlegen: leere, selbst zu definierende oder Standardbesetzungen über Templates und Muster. Daneben wird man im Hub über Neuheiten informiert, kann sich über das Internet ins Benutzerforum einwählen oder die „Knowledge Base“ aufrufen. Hat man sich für eine Besetzung entschieden, öffnet sich die eigentliche Notationsoberfläche, die optisch ein wirklicher Genuss ist: sauber und klar, übersichtlich in einer neuen Konzeption. Diese basiert zum einen darauf, die Bearbeitung in fünf Hauptfunktionen aufzuteilen: Einrichtung, Schreiben, Notensatz, Wieder­gabe, Drucken. Zum anderen auf der Möglichkeit einer mehrteiligen Projekteinteilung mit separaten, individuell editierbaren Teilen.
Der Notensatz selbst wird im Schreiben-Modus erstellt. Auch hier besticht der übersichtliche Seitenaufbau: links Notenwerte und Haupt-Artikulation, rechts Schlüssel, Ton- und Taktarten, Dynamik, Spielanweisungen etc. Nach der Anwahl in der Tool-Bar öffnen sich Paletten mit jeweils spezifischen Elementen. Im Eigenschaften-Bereich kann dann elementbezogen, das heißt je nach Markierung (z. B. Note, Dynamik, Balken, Bindebögen, Triolen etc.) auf diverse Optionen zugriffen werden.
Die Zahl dieser Einstellungsmöglichkeiten ist beeindruckend, lässt das Herz eines jeden Notensetzers höherschlagen: Möchte man Dynamikzeichen mittig oder linksbündig zum Notenkopf, in Klammern (als editorischer Hinweis) oder normal? Sollen die Bindebögen flach oder stärker gekrümmt sein? Wo genau sollen die Triolenklammern enden? Ein „Messa di voce“-Button erlaubt das Einfügen eines kleinen Crescendos mit anschließendem Decres­cendo. Aus einem einfachen „p“ per Mausklick ein Pianissimo oder ein drei-, vier­faches Pianissimo zu machen, ist schon ein „Zuckerl“ des neuen Notationssystems, dessen Finessen man in vielen Bereichen bestaunen kann.
Darunter fallen z. B. die benutzerdefinierten Taktarten: zusammengesetzt oder alter­nierend, mit Zählzeitgruppen – normalerweise nur umständlich über Tricks machbar, in Dorico hingegen ein Kinderspiel. Ebenso differenzierte Bindebogen-Gestaltung (normale, gepunktet, gestrichelt u. a.) oder Trillernoten mit Vorzeichen über „tr“.
Auch die Eingabe von Gesangstext ist beeindruckend einfach und variabel zugleich: Nach Aktivierung über Tastatur­befehl kann man eine erste Strophe eingeben, beliebige weitere positionsgetreu einfügen und auch jeweils eine Übersetzung (kursiv unter der jeweiligen Zeile) anfügen. Einfache Dinge wie das Wechseln von einem ins benachbarte System sind überzeugend gelöst. Gruppenbefehle erleichtern die Arbeit des Komponisten, Arrangeurs und Notensetzers: So kann man einen Takt markieren und auf einen Schlag ein „p < f“ einfügen.

Kompetente Entwickler

Man spürt deutlich, dass kompetente Entwickler am Werk waren und sind. Sie haben die Anforderungen der Praktiker in vielen Jahren verinnerlicht und erlauben eine sehr differenzierte Eingabe auf verschiedenen Ebenen, was an die alte DOS-Notationssoftware Score – für viele immer noch ein Referenzsystem – erinnert. Es finden sich auch grundlegende Dinge, die bei den Konkurrenz-Produkten fehlen, etwa die primäre Eingabe ohne Festlegung einer Taktart, der Einfüge-Modus, der es erlaubt, an beliebiger Stelle Noten einzufügen, um dann den Rest automatisch zu verschieben, oder die Möglichkeit, eine Achtel-Passage im Nu in eine Version mit punktierten Achteln und Sechzehnteln zu ändern.
Natürlich ist die Eingabe über MIDI-Keyboard, Maus oder Tastatur möglich. Optimiert ist das Programm jedoch für die Eingabe über Tastatur (ohne Nummernblock, der ja bei vielen mobilen Geräten mittlerweile fehlt). Eine Vielzahl von Short-Cuts ermöglicht und beschleunigt die Eingabe – diese Tastaturkürzel muss man sich allerdings erst einmal aneignen. Zudem sind sie nicht für eine deutsche Tastatur ausgelegt, sodass das eine oder andere etwas umständ­licher wird. Ein Beispiel: Auflösungszeichen, b und # liegen bei der englischen Tastatur auf drei Tasten nebeneinander, bei der deutschen Version liegen sie auf zwei Tasten nebeneinander und für die dritte Option muss zusätzlich die Umschalttaste gedrückt werden – hier fordert die „Lokalisierung“ ihren Tribut.
Auch ist der erste Einstieg ins Programm mühsam, da man sich als Neuling vieles zusammensuchen muss; das ist weniger selbsterklärend als etwa bei Sibelius. Es stehen zwar einige englische Video-Tuto­rials, eine deutsche Hilfefunktion und ein deutsches PDF-Handbuch zur Verfügung, auch das Dorico-Forum gibt Hilfestellungen, aber der Anfang bleibt schwierig. (Die Anlage des Handbuchs ist übrigens verbesserungsfähig, denn wenn man beim Nachschlagen ständig den Hinweis findet, dass man den entsprechenden Tastaturbefehl eingeben soll, dieser aber nicht vermerkt ist und separat gesucht werden muss, hilft dies nur bedingt weiter! Auch das Register ist sehr lückenhaft.) Hier wäre die Lieferung der versprochenen Muster-Dateien und insbesondere die Beschreibung einer Partitur im Schritt-für-Schritt-Modus sehr hilfreich.
Zum flexiblen Eingabe-Modus gehören weitere Highlights wie etwa kolli­sionsfreie Bogensetzung, die Möglichkeit, eigene Tonsysteme zu definieren oder komp­lexe, verschachtelte N-tolen, auch über Taktgrenzen hinweg (!), zu schreiben. Wer sich in Sibelius mit dem Problem eines Triller-Nachschlags vor einem Taktstrich herumgeplagt hat, der weiß es zu schätzen, dass man eine Vorschlagsnote vor einen Taktstrich zwingen kann. Einen Taktstrich kann man übrigens auch einfach löschen, ohne dass das metrische Muster aus den Fugen gerät; allerdings sollte man mit solchen Aktionen vorsichtig sein und diszipliniert zu Werke gehen.

Feinabstimmung im Notensatz

Die Feinabstimmung des Layouts ermöglicht die Funktion „Notensatz“: Hier kann nicht mehr eingegeben, nur noch nach­bearbeitet werden. Das erfordert gegenüber bisherigen Notationsprogrammen ein Umdenken, ist aber von der Programm-Konzeption mit der Trennung von Eingabe und Gestaltung konsequent.
Eine nützliche Option ist es, einen Systemumbruch nicht nur nach einem bestimmten Takt, sondern an beliebiger Stelle innerhalb eines Takts zu erzwingen. Dieser Modus umfasst zudem viele Elemente eines echten Grafik-Programms: Erstellung von Titelleisten, automatische Seitenzählung Überschriften oder Musterseiten. Mittels Noten-, Text- oder Grafikrahmen kann man Seiten individuell oder die Partitur insgesamt bearbeiten, also z. B. Logos, Fußnoten oder Kommentare einfügen. Damit ergeben sich gerade für den pädagogischen Bereich ideale Möglichkeiten für Arbeitsblätter oder Instrumentalschulen.
Die „Wiedergabe“ integriert Audio-Bearbeitungsfunktionen – und das dürfte bei einem Produkt aus dem Hause Steinberg keine Überraschung sein: Hier kommt die Cubase Audio-Engine zum Tragen. Der Sound wird gesteuert zum einen über eine veritable MIDI-Pianorolle, zum andern über eine Mixer-Funktion und die VST-Steuerung; neben den mitgelieferten Sound-Bibliotheken (HALion Sonic SE und Symphonic Orchestra) können weitere VST-Ins­t­rumente eingebunden werden. (Ob auch eine Video-Anbindung folgen wird, wird sich zeigen.)

Druck und Export

Auch die Druck- und Export-Funktionen erlauben ein breites Spektrum an Optionen, die sonst oft nur über Anschluss-Programme erledigt werden können. Die Ausgabe von Partitur und Stimmen (einzeln, insgesamt oder individuell zusammengestellt) kann zum einen direkt über angeschlossene Drucker, zum anderen über den „Grafik“-Button nach PDF, SVG, PNG oder TIFF exportiert werden. Je nach Drucker können auch Doppelseiten, zwei Seiten auf einem Blatt oder Booklets ausgegeben werden, neben anwählbaren Elementen wie Datum und Zeit, Rahmen, Schnitt­marken und Wasserzeichen. Eine Konvertierung von Projekten auch in andere Formate ist im Übrigen möglich: nach MIDI, als WAV- oder MP3-Datei (Audio) oder in das universelle MusicXML-Format, das die Weiterverarbeitung auch in anderen Notationsprogrammen ermöglicht. Solche Dateien wie auch MIDI können auch importiert werden.

Neue Philosophie

Das wirklich Revolutionäre der neuen Notationssoftware Dorico ist die Philosophie, die zum einen die Aufteilung eines Werks in Partien (englisch „Flows“) vorsieht, zum anderen die Fixierung eines Ausführenden an eine Notenzeile aufhebt. Letzteres ermöglicht es beispielsweise, einem Spieler mehrere Instrumente zuzuordnen (etwa Oboe und Englischhorn oder Klavier und Celesta), ohne sich bei der Einzelstimme um Instrumentenwechsel, Transposition etc. kümmern zu müssen. Man erstellt ein Projekt und Dorico ermöglicht danach verschiedene Sichten auf ein Werk: als Gesamtpartitur oder Einzelstimme, Klavier- oder Chorauszug. Man kann Einzelteile beliebig zu Suiten zusammenstellen, ein Werk umgruppieren, Stimmen für einzelne SpielerInnen mit verschiedenen Instrumenten anlegen: Eine Spielerin sieht in ihrer Stimme tatsächlich nur die Teile einer Komposition, in der sie zu spielen hat, da ein mehrteiliges Werk in Partien aufgeteilt wird, die unabhängig voneinander erstellt, bearbeitet und umgestellt werden können.

Fazit

Dorico besticht durch eine hohe Flexibilität, ein modernes Layout und ein richtungsweisendes neues Konzept. Wer sich mit dem zunächst ungewohnten Handling vertraut gemacht hat, wird seine Freude daran haben. Doch bei allem Positiven: Auch nach drei Updates ist Dorico noch nicht ausgereift – hier muss noch nachgebessert, z. B. in der deutschen Version das Sprach-Mix aus Deutsch und Englisch beseitigt werden. Manches ist noch etwas ­hakelig, z. B. die Ergänzung von Akkord­tönen – da könnte man sich Verbesserungen im Handling vorstellen.
Was Finale und Sibelius in Jahrzehnten erarbeitet haben, kann natürlich nicht schon in der ersten Version komplett erreicht oder übertroffen werden. Angekündigt hat Steinberg für die nächsten Updates unter anderem Akkordsymbole, Linien für Wiederholungsenden (Haus Klammer 1, Haus 2 und Haus 3), Fingersatz, Jazz-Artikulationen, Rhythmusnotation, flexiblere Notation für Schlaginstrumente ohne Tonhöhenänderung, verbesserte Wiedergabe und Unterstützung für virtuelle Instrumente von Drittanbietern.
Aber was jetzt schon implementiert ist, ist zweifellos beeindruckend und geht in vielen Punkten über die Errungenschaften der Konkurrenz hinaus. Nach einer Phase der Optimierung dürfte Dorico zu einer echten Alternative zu Sibelius und Finale werden. Und dass der Newcomer die Konkurrenz aufschreckte, zeigte sich bei Sibelius, das nach einem Upgrade erstmals die Möglichkeit verschiedener Notenzeilengrößen in einem Projekt vorsieht: Immer wieder gefordert, wurde diese Funktion nun eingebaut – Dorico hatte es vorgemacht.
Die Anschaffung von Dorico – auch über verbilligte Crossgrades – dürfte eine Investition in eine vielversprechende Zukunft sein. Dorico kann allerdings nur auf einem Rechner aktiv sein, eine Parallelinstallation auf zwei Geräten ist nicht möglich, außer über eine Übertragung des Lizenzschlüssels (digital oder über USB). Das ist bei der Konkurrenz nutzerfreundlicher.