Christée, Jeanne

Violintechnik

Historische Schulen und ­Methoden von heute

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2011
erschienen in: üben & musizieren 6/2011 , Seite 57

Das Cover deutet die Spannweite des Inhalts an: Eine junge Geigerin lächelt einem „Gespenst“ aus vergangener Zeit entgegen. Die etwas linkisch wirkende Figur stammt aus Louis Spohrs Violinschule von 1833 und kann als frühes Beispiel der heutigen waagerechten Positionierung der Geige mit starker Einwärtsdrehung des linken Unterarms gelten. Der – von Spohr ausschließlich verwendete – moderne Geigenbogen erforderte die Haltung des Instruments vor dem Körper, um auch im oberen Bogendrittel rechtwinklig zur Saite streichen zu können. Deutlich sichtbar ist der von Spohr „erfundene“ Kinnhalter, der das Wegrutschen der Geige beim Lagenwechsel abwärts verhindert. Stützvorrichtungen, die im Extremfall das Halten der Geige allein mit dem Kinn ermöglichen, kannte Spohr allerdings noch nicht, das Instrument wurde allein vom Arm getragen.
So fortschrittlich diese Einsichten zu Spohrs Zeiten auch waren – im heutigen Violinspiel kann der statische Begriff „Haltung“ nur noch als Voraussetzung für das Umsetzen von Klang- und Ausdrucksvorstellungen durch Bewegung verstanden werden. Das bestätigen Jeanne Christées detaillierte Vergleiche gleich zu Beginn. Auf den hochinteressanten Francesco Geminiani (der nach ihm benannte Griff kann nicht gefahrlos auf die Mensur heutiger Violinen übertragen werden) und den pedantischen Leopold Mozart folgt der fast ­unbekannte Carl Wilhelm Ferdinand Guhr mit seinem Traktat „Ueber Paganinis Kunst die Violine zu spielen“ von 1829.
Bei Paganini widersprach so ziemlich alles den Spohr’schen Haltungsregeln: Er drückte den linken wie auch den rechten Ellbogen dicht an den Körper, der rechte Oberarm bewegte sich beim Spielen kaum, er wurde nur bei Springbögen etwas angehoben. Was die Bilder des „Teufelsgeigers“ nicht verraten: Die Publikumswirkung seines Spiels beruhte – selbst in virtuosen Passagen – auf starken ­dynamischen Gegensätzen. Die von ihm entwickelte, von Guhr dokumentierte Skala der natürlichen und künstlichen Flageoletts und Doppelflageoletts ­beherrschte er mit absoluter ­Sicherheit. Paganini spielte mit rhythmischer Präzision und dennoch „im höchsten Grade subjectiv-lyrisch“.
Von Guhrs Paganini-Analyse gelangt man über Spohr, Baillot, Joachim und Moser, Auer, Capet, Flesch zu so unterschiedlichen Erscheinungen wie Galamian, Suzuki und Ricci. Dass wir es heute mit einer Verschmelzung der vielfach gekreuzten und geteilten historischen Entwicklungen zu tun haben, erweisen die anschließenden „Persönlichen Erfahrungen“ der als Solistin und Pädagogin tätigen Autorin. Wohltuend undogmatisch geht sie auf technische Probleme, aber auch auf die Entwicklung der künstlerischen Individualität ein. Den Abschluss bilden Interviews z. B. mit Hilary Hahn oder mit Ulf Hoelscher. Von diesem Buch kann jeder profitieren, der das Violinspiel liebt und lehrt.
Reinhard Seiffert