Rüdiger, Wolfgang

Vom Glück des Techniklernens

Anregungen und Praxisbeispiele

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 1/2011 , Seite 28

Ist es denkbar, auch beim Erlernen instrumentaler Technik musikalische Glückserfahrungen zu machen? Dass dies gelingen kann, zeigt uns Wolfgang Rüdiger in sechs aufbauenden Schritten vom Warmup bis zum Ensemblespiel.

Glücklich schätzen dürfen wir uns, so lehren es Erfahrung, Philosophie, Literatur,1 wenn wir
– gut geschlafen haben und ausgeruht die Glieder strecken;
– uns lebendig fühlen und im Vollbesitz unserer Kräfte;
– tanzen, uns bewegen und Sport treiben;
– den Körper spüren, alle Sinne und die Welt um uns und in uns;
– mit geliebten Menschen zusammen sind;
– gemeinsam lachen, weinen, singen, spielen;
– etwas Gutes, Schönes herstellen, das nützt und erfreut;
– anderen helfen, Gutes tun, ein gutes Gespräch führen;
– Erfüllung finden in sinnvoller Arbeit und im Spiel;
– die Gunst der Stunde nutzen und ein Ziel erreichen;
– etwas geschenkt bekommen und den Zufall auf unserer Seite haben;
– Neues lernen und entdecken, eine gute Idee haben;
– mit entscheiden können, Lob und Anerkennung erfahren;
– gelassen bleiben auch bei Schwierigkeiten;
– den Tag nutzen und das Leben feiern;
– ganz bei uns sind und beim anderen;
– innehalten und loslassen;
– unser Ich vergessen;
– atmen.
Können diese und andere persönliche Quellen des Glücks auch beim Techniklernen sprudeln? Oder ist Technik am Instrument zwangsläufig eine notwendige Pflichtübung, die auf das Glück gelingenden Musizierens hinsteuert, ohne es selbst zu gewähren? So empfinden und praktizieren wir es meist, so ist es zur plausiblen Gewohnheit geworden, bedarf die Handhabung von Instrumenten doch etlicher Kunstbewegungen, die nicht ­direkt in unserer Natur liegen, die wir anscheinend mühsam erlernen und üben müssen, um Musik machen zu können.
Doch ach!, nur allzu oft geht darüber das Eigentliche, die Musik, verloren – und mit ihr das Glück des Instrumentalspiels, das viele aufgeben, weil sie zum Musizieren gar nicht kommen vor lauter Bewegungsaufbau. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Ist eine instrumentale Technik denkbar, die nicht im Vorhof der Musik verbleibt, sondern menschliche und musikalische Glückserfahrungen ermöglicht?
Ja, ein Techniklernen und -üben mit Lust und Genuss ist denkbar. Besinnen wir uns auf die Ursprünge der Begriffe Natur und Technik: Nach Aristoteles ist Physis – die Natur – zugleich Stoff und, im Bereich des Lebendigen, Form, die zielstrebig sich entfaltet und entwickelt, wie in einem technischen Herstellungsprozess, nur von innen, nicht von außen. Folgen wir diesem Gedanken, so erweist sich Technik, jene formbildende Gestaltungskraft der Natur, nicht als Gegensatz, sondern als „Teil unserer spezifischen Menschennatur“, die in einem langen Lern- und Herstellungsprozess Gestalt annimmt.
Dies zeigt sich zuerst und exemplarisch im Gebrauch unserer Bewegungen, die in dem Maße immer vielfältiger und funktionaler werden, in dem wir sie bewusster wahrnehmen, wiederholen, erweitern und verfeinern. Aber auch die Entwicklung von Sprache und Schrift, Kommunikation und Kunst wird von der „kunstvollen Technik der Natur“ des Menschen vorangetrieben; ihr „Schlüssel­organ“ ist die menschliche Hand, das Werkzeug aller Werkzeuge. „Da hat diese ‚handwerkende Natur‘ den Menschen nach ihrem Bilde zu einem ‚Hand-Werker‘ von Natur gestaltet“,2 der alle möglichen Gegenstände und Geräte herstellen, Kunst und Kultur schaffen, Instrumente spielen, sprechen, lesen, schreiben lernen und dies ein Leben lang verbessern kann.

1 Stellvertretend für viele Publikationen: François ­Lelord: Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück, München 2004; Ludwig Marcuse: Philosophie des Glücks von Hiob bis Freud, Zürich 1972; Sabine Meck: Vom guten Leben. Eine Geschichte des Glücks, Darmstadt 2003.
2 Klaus Bartels: „Physis und Téchne, Natur und Technik – Jahrtausendbegriffe im Wandel“, in: Forum Classicum. Zeitschrift für die Fächer Latein und Griechisch an Schulen und Universitäten 3/2010, S. 198-203, hier S. 201.

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