Schmitt-Weidmann, Karolin
Vom Glück, immer wieder am Anfang anzukommen…
Das interdisziplinäre Unterrichtsformat „Meisterwerkkurs“ an der Hochschule für Musik Detmold
Meisterwerk, Werkstatt, Meisterkurs – diese Zutaten bildeten den Ausgangspunkt für eine vielleicht nicht neue, aber dennoch erfrischend unübliche kollektive Unterrichtsform, die sich selten an Musikhochschulen ereignen dürfte.
An zwei aufeinanderfolgenden Abenden trafen sich auf Einladung des Teams Studiengangsentwicklung Studierende mit Lehrenden der Studienfächer Violine, Historische Aufführungspraxis, Orchesterdirektion, Musikwissenschaft und Musiktheorie zu einem Unterrichtsformat, das als interdisziplinäre Gesprächsrunde angelegt war. Im Mittelpunkt stand das Violinkonzert Nr. 5 A-Dur KV 219 von Wolfgang Amadeus Mozart. Im Spannungsfeld zwischen seiner jahrhundertelangen Aufführungstradition und der oftmaligen Berücksichtigung als Probespielstück stellt dieses Konzert MusikerInnen immer wieder vor besondere interpretatorische Herausforderungen.
Als erster Gesprächsimpuls diente ein Zitat von Igor Levit, der auf die Frage, ob er den überaus populären Satz der „Mondscheinsonate“ überhaupt noch hören könne, in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit antwortete: „Je häufiger ich die Sonate spiele, je mehr ich damit arbeite, desto weniger verstehe ich sie, desto mehr entfernt sie sich von mir, desto glücklicher werde ich damit und desto öfter will ich sie spielen. […] Ich möchte nie sagen: Das habe ich verstanden, das Nächste, bitte. Das Ziel ist: Ich möchte immer wieder am Anfang ankommen.“1
Nach und zwischen der Darbietung der drei Sätze des Konzerts durch Studierende aus den Bereichen Orchestermusik (Violine) und Orchesterdirektion (Korrepetition) widmete sich die Diskussion zunächst der mit diesem Konzert (leider) stark assoziierten Probespielsituation. Das Probespiel erwies sich als unmittelbar prägend für Präferenzen von Interpretationen angehender MusikerInnen. Die spezifischen Erwartungen und Spielregeln des Berufsfeldes Orchestermusik kollidieren nicht selten mit der Herausbildung einer eigenen Künstlerpersönlichkeit, sofern diese eine individuelle Klangsprache herausbilden und unverwechselbare Aufführungsereignisse gestalten möchte.
Die Fragen nach Führen und Folgen im Beziehungsgeflecht von SolistIn und Orchester führten die Diskussion hin zur Perspektive des Komponisten. Zu diesem Zweck wurden Passagen aus Leopold Mozarts Violinschule2 und Briefe3 von Wolfgang Amadeus Mozart herangezogen sowie zahlreiche Stellen der Partitur analytisch durchleuchtet. Des Weiteren zogen die Teilnehmenden Parallelen zu Oper und Tanz, fächerten das Spiel mit Erwartungen, Symmetrien, Ambivalenzen und Überraschungen kaleidoskopartig auf und diskutierten die Wirkung von Phrasierung sowie den Einsatz des Fantasierens (nicht nur an den gängigen Kadenzpositionen). Vor diesem Hintergrund wurden insbesondere auch die Aufgaben von MusikerInnen damals und heute einander gegenübergestellt.
Wo liegen die Grenzen zwischen einer Verantwortung gegenüber dem Urtext, der Berücksichtigung des zeitgeschichtlichen Kontextes und dem eigenen künstlerischen Ausdruckswillen eines heutigen Musikers, einer heutigen Musikerin, der oder die sich an ein Publikum wendet, welches zeitlich und kulturell sehr weit entfernt von demjenigen Mozarts lebt und dessen Musik in der heutigen Zeit wahrnimmt? Ist es heute noch möglich und sinnvoll, dem Überraschungseffekt der Kontextverschiebung eines alla turca im dritten Satz inklusive provozierender Wirkung auf Zeitgenossen nachzuspüren? Oder ist es vielmehr legitim und angebracht, die Ebene des Humors hervorzuheben, statt einen längst vergangenen Exotismus heraufzubeschwören, der in unserer Globalisierungskultur kaum mehr zum Staunen anzuregen vermag?
Im Sinne des Gustav Mahler zugeschriebenen, aber von Jean Jaurès stammenden Zitats „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers“4 formulierte die Gesprächsrunde die lebenslang währende Aufgabe, sich musikalischen Werken mit einer nie zu stillenden Neugier auf immer neu zu entdeckende Facetten zu widmen. Im Wissen, immer wieder am Anfang anzukommen, freuten sich alle Teilnehmenden auf weitere interdisziplinäre Austauschgelegenheiten, die – inspiriert von diesem Unterrichtsformat – sogleich in unterschiedlichen Konstellationen eigeninitiativ in Angriff genommen wurden. Auf diese Weise könnten Studierende auch zukünftig aus einem sich gegenseitig bereichernden Expertenwissen der verschiedenen Professionen schöpfen.
1 „Es ist so unheimlich geil“, Interview von Moritz Uslar mit Igor Levit in: Die Zeit, 2016, Heft 22, www.zeit.de/ 2016/22/igor-levit-pianist-jubilaeum-ludwig-van-beethoven-klaviersonaten (Stand: 17.10.2023).
2 Mozart, Leopold: „Das zwölfte Hauptstück: Von dem richtigen Notenlesen und guten Vortrage überhaupt“, in: ders: Gründliche Violinschule (31787), Faksimile-Nachdruck, Wiesbaden 1991, S. 257-268.
3 Wolfgang Amadé Mozart an Leopold Mozart, 6. Oktober 1777, in: Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, hg. von der Internationalen Stiftung Mozarteum, Bd. II, Kassel 1962, Nr. 345, S. 40; Leopold Mozart an Wolfgang Amadé Mozart, 18. Oktober 1777, in: ebd., Nr. 353, S. 72; Wolfgang Amadé Mozart an Leopold Mozart, 11. September 1778, in: ebd., Nr. 487, S. 473; Leopold Mozart an Wolfgang Amadé Mozart, 24. September 1778, in: ebd., Nr. 491, S. 485.
4 zur Genese und Herkunft dieses Zitats siehe Krieghofer, Gerald: „Irrwege einer Metapher“, in: Wiener Zeitung, 10.06.2017, www.tagblatt-wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/geschichten/897102-Irrwege-einer-Metapher.html?em_cnt_page=1 (Stand: 19.5.2023).
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 6/2023.