Mayrlechner, Daniela

Vom Großen im Kleinen

Üben und Musizieren in der Volksmusik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2011 , Seite 20

Volksmusik scheint im Lebensumfeld vieler Musikschulen, aber besonders auch der Musikschülerinnen und Musikschüler kaum bis gar nicht ­vorhanden zu sein. Handelt es sich also um eine längst überholte ­(pädagogische) Praxis? Oder ist Volksmusik – im Gegenteil – ein Paradebeispiel für ein Lernen und Musizieren im sozialen Kontext?

Mancher mag sich vielleicht wundern, in diesem Heft einen Artikel vorzufinden, der sich die Volksmusik zum Thema nimmt. Man könnte es der Staatsbürgerschaft der Autorin zuschreiben (ich bin Österreicherin) – im Glauben, dass die Met­ronome hier anders ticken. Tun sie nicht – oder nur bedingt.
In vielen, gerade auch urbanen Gebieten ist die Volksmusik wenig präsent – sieht man von der flächendeckenden Versorgung über diverse Medien ab. In der Betrachtung jener Phänomene, die hier den Namen Volksmusik für sich in Anspruch nehmen, zeichnet sich ein Bild zwischen auf der Bühne im Duktus eines Stilllebens drapierten Musikgruppen und streichelweichen Fernsehdackeln ab.1 Volksmusik ist also möglicherweise für viele MusikerInnen und MusikpädagogInnen ein weißer Fleck auf der musikalischen Landkarte – oder auch ein rotes Tuch.
Anderen jedoch dient sie in zahlreichen Bereichen des individuellen wie kollektiven Lebens als „kulturelles Lebensmittel“,2 ist eingebunden in den Alltag, markiert vielmehr auch die Eckpfeiler desselben. Ja, in zahlreichen dörflichen Gemeinschaften – nicht nur in Österreich – kann man solcherlei an Brauch gebundene und in Funktion stehende Musik hören und erleben; doch „die Öffentlichkeit“ ist eine andere als jene des Konzertlebens der Kunstmusik. Auch die derart „dargebotene“ Musik unterscheidet sich in vielen Parametern von der Musik der Hochkunst. Man könnte sagen, sie sei einfach – ihre kleine kurze Form, die große Bedeutung der ­Wiederholung, die auf wenige Akkorde beschränkte Harmonik legen diesen Schluss durchaus nahe – und läge damit im Grunde genommen gar nicht so falsch.
Doch es gilt auch zu erkennen, „daß das Prinzipiell [sic] Kleine von Volksmusik nicht eine Beschränkung auf dilettantische Kultur bedeutet“, es gilt auch Qualitätsbegriffe zu bestimmen, „die sich nicht aus Komplexem bzw. Kompliziertem ableiten, sondern aus dem organisch Gewachsenen ergeben“.3 Oder, wie Hermann Härtel so treffend bemerkt: Auch große Weine werden aus kleinen Gläsern getrunken.4 Und trägt nicht – um beim selben Bild zu bleiben – trotzdem jeder Schluck die Merkmale desselben Weins? Enthält nicht jede dieser kleinen Portionen die formalen Gesetze der alpenländischen Volksmusik, auch solche der abendländischen Tonkunst? Und mehr als das: Es findet hier, im immer selben kleinen Glas, eine unglaubliche Vielfalt an Varianten, regionalen Spielarten und Personalstilen, eine reichhaltige Musik Platz. Ermöglicht und genährt wird diese Vielfalt – und hiermit sind wir beim Kern des Themas angelangt – durch jene Praxis der Weitergabe von Kenntnissen, Fertigkeiten und Praktiken, wie sie in der Vermittlung von Volksmusik stattfindet, dem Lernen und Lehren in der volksmusikalischen Überlieferung.5

Volksmusikalische ­Vermittlungspraxis

Es handelt sich hierbei um einen Vorgang, der sich in vielen Parametern vom formalen Unterricht an Musikschulen unterscheidet – zuerst einmal schon dadurch, dass er in hohem Grad informell ist. Lernen im Rahmen der Überlieferung ist nicht institutionalisiert, ja manches Mal nicht einmal intendiert.6 Der erfahrene Musiker, der zum Tanz spielt und von dem man sich Tricks abschaut, die Mutter oder der Vater, die beim Kochen vor sich hin summen, die KollegInnen, mit denen man sich in einer Gruppe Repertoire erarbeitet, oder die MusikantInnen, mit denen man am Stammtisch „bradlt“7 – allzu oft wissen die entsprechenden Personen gar nicht, dass sie als LehrerIn fungieren, vielfach ist jedoch auch dem Lernenden der Akt des Lernens nicht als solcher bewusst. Der Vorgang entspricht mehr dem Hineinwachsen in ein vorhandenes Lebensumfeld, in eine Gruppe, in die Musik und in den Stil.
Enkulturierung nennt sich dieses Phänomen und es wird immer wieder von Gewährspersonen geschildert. Doch auch jene Momente des Lernens, die bewusst als solche wahrgenommen werden, die durchaus geplant in mehr oder weniger formalen Lehr- und Lernsituationen stattfinden, unterscheiden sich in ihren Rahmenbedingungen wie auch in der Art und Weise, in der sich der Lernvorgang gestaltet, mehr oder weniger stark vom Lernen und Lehren in der Hochkunst.

1 Der Versuch einer Abgrenzung des Begriffs „Volks­musik“ wäre hier fehl am Platz, genauso wie jener einer Darlegung der vielseitigen Definitionsansätze. Hierzu sei auf einen diesbezüglichen Artikel von Hermann Fritz verwiesen: „Untersuchungen über Volksmusik- und Volksliedbegriffe“, in: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 42/43, Wien 1994, S. 92-144.
2 Der Begriff „Lebensmittel Musik“ und dessen Pendant „Genussmittel Musik“ sind sehr stark von Hermann Härtel geprägt. Vgl. Hermann Härtel: „Lebensmittel oder Genussmittel? – das ist die Frage. Referat anlässlich der Jahrestagung „,Gelehrte‘ oder ,geleerte‘ Volksmusik?“ des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege“, in: Steirisches Volksliedwerk (Hg.): Hermann Härtel. Vor­träge, Leitartikel, Reden, Glossen, Zitate, Band 10 der Reihe „Sätze und Gegensätze. Beiträge zur Volkskultur“, Gnas 1999, S. 80-87.
3 Rudolf Pietsch: „Die Wiener Musikhochschule und ihr Beitrag zum Studium von Volksmusik“, in: Der Vierzeiler 1,2/1993, S. 8.
4 vgl. Hermann Härtel: „Das Gstanzl – die Sprache des Augenblicks“, in: Steirisches Volksliedwerk, Hermann Härtel, a. a. O., S. 147.
5 Die Betrachtung beschränkt sich in diesem Beitrag in erster Linie auf die Merkmale des instrumentalen Lernens im Rahmen der volksmusikalischen Überlieferung.
6 vgl. Gerlinde Haid: „Überlieferungsvorgänge in der österreichischen Volksmusik“, in: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 28, Wien 1979, S. 42.
7 Das Wort „bradln“ wird einerseits mit der Person des „Bradlgeigers“ in Verbindung gebracht, andererseits auch mit den Brettern, die bekanntlich die Welt bedeuten können. Es handelt sich dabei um ein Musizieren, das häufig durch eine Mahlzeit (zum Beispiel auch einen Schweinsbraten) entlohnt wurde.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2011.