Bitzan, Wendelin

Vom Satzmodell zum Werk – und zurück

Stephen Hellers "Melodische Etüden" als Anregung zur spielerischen Rekomposition

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 2/2013 , Seite 22

Ein Jubilar, der in diesem Jahr mög­licherweise weniger ausgiebig gewürdigt werden wird als seine berühm­teren Zeitgenossen, ist der ungarische Komponist und Pianist Stephen (István) Heller. Nicht ganz zu Unrecht bringt man seinen Namen, so man ihn überhaupt nennt, in Verbindung mit den zahlreichen Klavieretüden, die als sein kompositorisches Ver­mächtnis gelten.

Stephen Heller hat mit Richard Wagner und Giuseppe Verdi das Geburtsjahr gemeinsam; mit seinem Landsmann Franz Liszt teilt er das Todesjahr und die Wahlheimat Frankreich sowie eine weitgehende Konzentration seines Schaffens auf das Klavier. Doch während die genannten Personen einen kaum zu steigernden Nachruhm genießen, sind die Person und das Werk Hellers gegen Ende seines Lebens in Vergessenheit geraten. Dies wäre Grund genug, sich des Komponisten im Jahr seines 200. Geburtstags zu entsinnen – doch kann auch die Qualität seiner zum großen Teil vernachlässigten Kompositionen einen Anknüpfungspunkt bilden. Exemplarisch möchte ich auf den Zyklus der Melodischen Etüden op. 45 eingehen und ihren Wert für den Instrumentalunterricht und die musikalisch-kompositionshistorische Unterweisung beleuchten.
Einige Worte zu Hellers Werdegang und musikalischem Umfeld mögen genügen, um den Rang seiner Kompositionen einschätzen zu können. Nach prägendem Unterricht bei dem Wiener Klavierpädagogen Anton Halm und exzessiven, von seinem Vater initiierten Konzertreisen lässt sich der junge Künstler 1830 in Augsburg nieder. Er pflegt eine fortdauernde Korrespondenz mit Robert Schumann, der ihn fördert und erste Kompositionen Hellers rezensiert. 1838 kommt er auf Anregung Friedrich Kalkbrenners nach Paris, tut sich allerdings schwer, in den Salons Fuß zu fassen, und verdingt sich als Arrangeur und Produzent von Opernparaphrasen. Er pflegt freundschaftliche Beziehungen zu Berlioz, steht in Verbindung mit Liszt und Chopin, ohne jedoch an deren Erfolge anknüpfen zu können, und bewegt sich meist abseits der höheren gesellschaftlichen Kreise.
Zwar schreibt er vier Klaviersonaten und einige größere Variationenzyklen; sein bevorzugtes Metier ist aber die kleine Form, und es sind vor allem Charakterstücke und Etüden, mit denen er schließlich reüssieren kann. Hellers Klavierkompositionen sind keine virtuosen Bravourstücke1 – ihre Klarheit und Schlichtheit lässt sie in größtmöglichem Kont­rast zum auftrumpfenden, aus musikalischer Sicht häufig dürftigen Klaviersatz eines Kalkbrenner, Herz oder Thalberg erscheinen. Ohne ausgeprägtes Innovationspotenzial, aber niemals epigonenhaft kreiert Heller einen zeittypischen, die pianistischen Entwicklungen Deutschlands und Frankreichs förmlich zusammenfassenden Klavierstil.

1 Gerhard Puchelt fasst den Anspruch der Etüden folgendermaßen zusammen: „Heller schreibt nicht Bravour-, sondern Ausdrucksstudien, in denen ein pianistisches Problem zur Ausdeutung einer Stimmung verwendet wird. Daher dienen diese Etüden immer zur Vorbereitung der Gestaltung anderer Werke, weniger zu deren technischer Beherrschung.“ Gerhard Puchelt: Verlorene Klänge. Studien zur deutschen Klaviermusik 1830-1880, Berlin 1969, S. 19f.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2013.