Welte, Andrea

Vom sozialen Brennpunkt zur Philharmonie

Das musikpädagogische Orchesterprojekt Démos

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2016 , Seite 44

Alle dürfen mitmachen. Jeder bekommt kostenlos ein Instrument und spielt vom ersten Tag an im Orchester. El Sistema Venezuela steht nicht nur für ein erfolgreiches Musiklernen in der Gruppe, sondern auch für die Vision einer besseren Gesell­schaft. Inspiriert von Initiativen wie El Sistema wurde im Januar 2010 in Frankreich das musikpädagogische Orchesterprojekt Démos für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche aus der Taufe gehoben.

Das Projekt Démos – Dispositif d’éducation musicale et orchestrale à vocation sociale – zielt auf kulturelle Demokratisierung, insbesondere auf eine Demokratisierung des Zugangs zur westlichen klassischen Musik.1 Der pädagogische Leiter Gilles Delebarre erläutert: „Wir möchten den Kindern ermög­lichen, sich ein musikalisches Erbe anzueignen, das ihnen gehört, aber zu dem sie sonst vermutlich keinen Zugang gefunden hätten und das immer noch oft als Privileg einer Elite betrachtet wird.“2 Démos richtet sich vorrangig an junge Einwohner aus sozialen Brennpunktvierteln oder abgelegenen länd­lichen Gegenden ohne die nötigen ökonomischen, sozialen oder kulturellen Ressourcen, um die klassische Musik in den existierenden Institutionen zu entdecken und zu praktizieren. Das Projekt wird in Kooperation mit dem Orchestre de Paris und dem Orchestre Symphonique Divertimento durchgeführt und von einem festen Team von MitarbeiterInnen der Philharmonie de Paris/Cité de la musique betreut und koordiniert.3 Démos steht unter der Schirmherrschaft des ehemaligen französischen Fußballspielers Lilian Thuram und seiner 2008 gegründeten Stiftung „Éducation contre le racisme“.

Struktur

Im Rahmen von Démos erhalten sozial benachteiligte Kinder4 im Alter von sieben bis elf Jahren5 drei Jahre lang zweimal pro Woche zwei Stunden Musik- und Instrumentalunterricht in der Gruppe; zusätzlich findet eine Orchesterprobe pro Monat unter Leitung eines renommierten Orchesterleiters bzw. einer -leiterin statt. Jede Gruppe umfasst 15 Kinder.6 Sie hat ihr eigenes musikalisches Programm und zusätzlich das gemeinsame Programm der Orchesterproben. Jedes Kind erhält leihweise ein Instrument zur Verfügung gestellt. Es werden regelmäßig kleine Konzerte veranstaltet. Am Ende jedes Jahres steht ein großes Orchesterprojekt, bei dem die Kinder zwei bis vier klassische Stücke in maßgeschneiderten Bearbeitungen im Sinfonieorchester vor großem Publikum, etwa in der Pariser Philharmonie, aufführen.
Die Pilotphase von Januar 2010 bis Juni 2012 erreichte 450 Kinder aus der Region Île de France (30 Gruppen an 30 Orten). In der zweiten Phase von September 2012 bis Juni 2015 wurde das Projekt auf insgesamt 800 Kinder aus der Region Île de France und den Départements Isère und Aisne ausgeweitet (50 Gruppen an 50 Orten). Seit September 2015 läuft die dritte Phase, in der in 200 Gruppen rund 3000 Kinder teilnehmen.

Rahmenbedingungen

Der „ateliers“ genannte Musikunterricht findet komplett außerhalb des schulischen Rahmens statt. Partner sind Jugend-, Kultur- und Beratungszentren, Nachbarschaftshäuser, Freizeitheime und Ähnliches. Diese Einrichtungen entscheiden letztlich auch, wer am Projekt teilnimmt.7 Sie informieren, beraten und betreuen die Familien und bieten Kindern, die zu Hause nicht musizieren können, Übemöglichkeiten.

1 vgl. die umfangreichen Informationen unter http://projetdemos.fr; s. auch: „L’Orchestre des jeunes Démos, des quartiers à la Philharmonie“, in: Le monde, 30. Juni 2015.
2 Gespräch mit Gilles Delebarre am 16. Dezember 2015 in der Philharmonie de Paris, deutsche Übersetzung durch die Verfasserin, im Folgenden abgekürzt: Dele­barre 2015.
3 Die Finanzierung erfolgt zu 45 Prozent vom Staat, zu 45 Prozent von den Städten und Gemeinden und zu 10 Prozent durch Mäzene.
4 Sehr häufig anzutreffen sind in den Familien Arbeits­losigkeit, Armut und Migrationshintergrund. Für genauere Daten siehe http://projetdemos.fr/evaluation
5 An der Pilotphase nahmen auch ältere Schülerinnen und Schüler teil (bis ca. 14 Jahren).
6 Die Kinder einer Gruppe erlernen in der Regel Instrumente aus einer Instrumentenfamilie.
7 Es gibt keinen Aufnahmetest. Auswahlkriterien sind: 1. keine andere Musikpraxis, 2. Wunsch der Kinder und deren Familien, 3. Repräsentativität im sozialen (Brennpunkt-)Feld.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2016.