Schneider, Hans
Vom Tropfen zum Klang
Aspekte und Bedingungen experimentellen Musizierens
Experimentelles Musizieren eröffnet SchülerInnen neue Welten der Musikwahrnehmung und Klanggestaltung, gibt ihnen ein Handwerkszeug zur eigenen Gestaltung von Musik in die Hand und macht ihnen dadurch die Welt zur gegenwärtigen Musik zugänglich. Die Lehrkräfte erhalten dabei eine neue Leitungsrolle – sie sind ErmöglicherInnen für offene Gestaltungsprozesse und nicht mehr nur Wissens- und FertigkeitsvermittlerInnen.
Was ist das Wesen einer experimentellen Aktion? Eine solche ist schlicht eine Aktion, deren Ergebnis nicht vorausgesehen wird. (John Cage)1
Im Februar 2017 sprach der Komponist und Musiker Heiner Goebbels auf der Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt über die zentrale Rolle des Kollektivs und dessen Einfluss auf seine Arbeit. Dabei verwies er auf die nichthierarchische Struktur beim Musicking: Darunter versteht er das Erfinden und Komponieren als Ausprobieren in und mit einer Gruppe, wobei das Verhandeln ästhetischer Differenzen ins Zentrum des gemeinsamen Arbeitens rückt. Dies erfordert von allen Beteiligten die Bereitschaft, andere Kriterien und Urteile als Instanz zuzulassen als nur die eigenen, subjektiven. Günter Mayer bezeichnet in Bezug auf Heiner Goebbels diese Art des Arbeitens als ein „sich verdichtende[s] Ausprobieren“, welches geprägt ist von „eine[r] sinnlich-körperliche[n], emotional-ideelle[n] Widerspruchsbewegung zwischen Improvisation und Komposition, Phantasie und Konstruktion“.2
Die Aussagen von Goebbels und Mayer verdeutlichen wesentliche Merkmale experimentellen Musizierens – nicht nur bezogen auf das Musizieren im Ensemble, sondern auch auf den individuellen Instrumental- und Vokalunterricht. Das Besondere dabei ist, dass kein vorgegebenes Musikstück vorliegt, welches erarbeitet und für mögliche Präsentationen abgespeichert werden soll, sondern es stehen sowohl die Ausarbeitung von offen gestalteten Vorlagen, Aufgaben, von verbalen, grafischen oder in traditioneller Notation verfassten Anleitungen als auch das Ergebnis zur Disposition. Auf diese Art und Weise verfasste Partituren definieren nur die Rahmenbedingungen, nicht aber den Prozess des Erarbeitens und das Ergebnis.
Aspekte experimentellen Unterrichtens
Inhalt eines experimentellen Instrumental- und Vokalunterrichts ist nicht das Reproduzieren vorhandener Musikstücke, in deren Zentrum ein optimales Spielen und richtiges Interpretieren steht, sondern es geht darum, die SchülerInnen zu eigenen Musikkreationen anzuregen. Dies beinhaltet
– die Materialfindung und das Untersuchen neuer Materialien auf Klanglichkeit und Veränderbarkeit;
– die Erforschung und Erprobung des Instrumentariums und damit verbunden die Erweiterung der bisher angewandten Spieltechniken;
– das Finden und Erproben unterschiedlichster Gestaltungsformen, die Strukturierung des ausgewählten Materials und das Untersuchen der Tragfähigkeit im Kontext eines ganzen Stücks;
– das beinahe zeitgleiche Erfinden und musikalisch-praktische Ausführen des Gedachten und Erfundenen, welches somit schon erste Kompositionsergebnisse zeitigt;
– improvisatorische Phasen, um über fantasiegeleitetes Spielen und Er-Spielen brauchbares Spiel- und Kompositionsmaterial zu kreieren, welches im weiteren Verlauf verwendet wird – oder auch nicht;
– das Gestalten/Komponieren von Stücken, ausgehend von ausgewählten Materialien und anhand bestimmter Regeln und Vorgaben;
– das Üben: offenes, prozess- und nicht produktorientiertes Arbeiten erfordert intensives, konzentriertes Üben, Ausprobieren, Verändern und Verbessern, damit dem Vorwurf des Beliebigen und Ungenauen Konkretion und Genauigkeit des Spielens entgegengesetzt werden kann; diesen Punkt betreffend schreibt der Komponist Ernst Krenek: „Phantasie bedeutet Findigkeit im Ersinnen und Anwenden von Prozedur, was etwas ganz anderes ist, als die Inspirationstheorie meint […], daß gerade jene Details […], in Wirklichkeit das Resultat fleißiger Arbeit, langwieriger Versuche, wiederholter Verbesserungen und Überarbeitungen sind.“3
– ein konzentriertes Sich-ins-Gedächtnis-Einschreiben; dies ist deshalb von Bedeutung, da Auswendigspielen mehr Intensität ermöglicht, die Kommunikation beim Spielen im Duett, Trio bis zum Ensemble untereinander intensiviert wird und weil in manchen Fällen auch keine geeignete Notation als Vorlage vorhanden ist;
– die Imagination des „Was will ich?“, „Welcher Klang schwebt mir vor?“, „Wie lang soll die Pause sein?“ etc.; Gleiches gilt für die Präsentation der erarbeiteten Musikstücke; Theodor W. Adorno dazu: „Sinnvoll, überzeugend gerät nur, was bestimmt, überzeugend vorgestellt ist. Jede Unsicherheit der Imagination überträgt sich auf die Wirkung. Das ist eine Grundregel.“4
– die Suche nach geeigneten Notationsformen – traditionell, grafisch oder verbal – bzw. das Erstellen individueller und für das jeweilige Stück passender Mischformen; dabei ist immer die Funktion der Notation maßgebend: ob nur als Gedächtnis- und Realisierungsstütze für den Spieler oder als Vorlage, als Spielpartitur für andere.
Für alle diese Punkte gilt, dass es in den meisten Fällen nicht nur eine Möglichkeit gibt, sondern deren viele. Hier beginnt die ästhetische Auseinandersetzung. Da es im Kontext des experimentellen Musizierens und Komponierens in den seltensten Fällen klare Richtlinien für die Vorgehensweise und den Prozess gibt oder Ergebnisse oder Produkte vorgegeben sind, stehen hier die Arbeitsweise, die Auswahl des Materials, das Einhalten von Regeln, die Musizierweisen, das Ergebnis und auch die Art der Präsentation immer wieder zur Diskussion. Heiner Goebbels spricht vom „Verhandeln ästhetischer Differenzen“ und Günter Mayer von „sinnlich-ideeller Widerspruchsbewegung“. Dies ist ein weiteres Kernstück dieser Art des Unterrichtens: die ständige Auseinandersetzung und Diskussion über das Tun, über die Vorgehensweise, über Inhalte und Ergebnisse – zu erarbeiten von jeder Lehrkraft. Oder anders ausgedrückt: Das Reflektieren muss gelernt werden – sowohl als Lernender wie auch als Lehrender.
1 John Cage: „Zur Geschichte der experimentellen Musik in den Vereinigten Staaten“, in: Darmstädter Beiträge zur neuen Musik, hg. von Wolfgang Steinecke, Schott, Mainz 1958, S. 48.
2 Günter Mayer: „Heiner Goebbels“, in: Komponisten der Gegenwart, hg. von Hanns-Werner Heister und Walter-Wolfgang Sparrer, 58. Nachlieferung, edition text + kritik, München 2017, S. 2.
3 Ernst Krenek: In der Zeiten Zwiespalt. Schriften eines unbekannten Bekannten, hg. von Martina Riegler, Marie-Theres Rudolph und Florian Schönwiese, Braumüller, Wien 2012, S. 171.
4 Theodor W. Adorno: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Aufzeichnungen, ein Entwurf und zwei Schemata, hg. von Henri Loritz, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001, S. 15.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2017.