Schneidewind, Ruth

Von den Quellen zum Klang zur Musik

Der Weg zum Elementaren Musizieren

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2010 , Seite 06

Wo nimmt Elementares Musizieren seinen Ausgangspunkt, welches sind die Quellen? Wie gelangt man anschließend von diesen Quellen und ihrem Rohmaterial zum Klang und zur Musik? Und woran kann man schließlich erkennen, ob das Musizieren gelungen ist? Ruth Schneidewind geht den Weg vom eigenen Ich zu einem gelungenen Musiziermoment.

Ich möchte hier ein Elementares Musizieren beschreiben, das sich als Praxisform der Elementaren Musikpädagogik versteht – ein Musizieren, das sich selbst genügt und die Grenzen zwischen Kunst und Pädagogik aufhebt: das Elementare Musizieren als pädagogisch-künstlerischer Prozess. Wir können uns vorstellen, dass sich dieser Musizierprozess zwischen den Eckpunkten Musik, Gruppe und Individuum entfaltet und folgen damit Ruth Cohn und ihrem Konzept von der Themenzentrierten Interaktion:1
Den einen Eckpunkt bildet die Musik, und zwar nicht als Anschauungs- oder Lerngegen­stand, sondern als Handlungsgegenstand, als das Musizieren selbst, das Anlass und Ziel des Zusammentreffens in Musizierstunden darstellt.
Der zweite Eckpunkt ist das Wir als Gruppe, die gemeinsam musiziert und in der dynamische Kräfte als Kreatives Feld2 wirksam werden. Sie machen das gemeinsame Musizieren besonders und spannend.
Der dritte Eckpunkt ist das Ich aller Gruppenmitglieder, jedes einzelne Ich, das sich gleichwürdig und gleichberechtigt einbringen darf, das sich bedingungslos und eigenständig in den Musizierprozess integriert.
Wie auch immer ein Musizierprozess im Detail verläuft, wie sich die Musik, die Gruppe als Ganzes und die einzelnen Individuen dabei entwickeln – ich möchte als Grundvo­raus­setzung des Gelingens folgende These formulieren: Ein Musizierprozess kann nur gelingen, wenn die Musik, das Wir und das Ich in einem möglichst ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, wenn weder ein ausgeprägter Erziehungsanspruch das Ich noch ein vorrangiger Anspruch auf soziales Lernen das Wir oder eine Betonung des musikalischen Sachlernens einseitig nur einen der drei Eckpunkte fokussiert und die anderen Eckpunkte dabei übersieht. Das Elementare Musizieren braucht viel mehr, und zwar in einem ausgewogenen Verhältnis: jedes Ich das gemeinsame Wir und die Sache, um die es geht, das gemeinsame Musizieren.

Quellen für Elemen­ta­res Musizieren

Was sind die Quellen für Elementares Musizieren, woher kommt es oder was liegt ihm zu Grunde?

Das Eigene als Quelle
Die eine Quelle für die Musik, die erklingt, ist das Individuum selbst, denn Elementares Musizieren braucht keine Vorlage und keinen Notentext. Alle Klänge, Melodien, Rhythmen und musikalischen Verläufe entstehen zunächst aus dem Menschen selbst und es erklingt genau das, was die musizierende Person in diesem Moment mittels selbst gewählter Töne und Klangfolgen ausdrücken will und kann.
Was eine Person klanglich ausdrücken will und kann, ist weder beliebig noch abstrakt konstruiert. Es kommt aus ihr selbst, aus ihren eigenen Ideen, die sie aus sich heraus entwickelt. Diese Ideen entstehen aus Handlungen, Gedanken und Gefühlen. Was ist mit Handlungen gemeint? Handlungen umfassen zunächst alle banalen, aber auch ungewöhnlichen Tätigkeiten, die wir selbst durchführen können. Diese Handlungen können wir musikalisch begleiten oder interpretieren: vielleicht ein frisches Aufstehen am Morgen, ein müdes Niederlegen am Abend, ein gemüt­liches Spazierengehen im Park oder ein has­tiges Dem-Bus-Nachlaufen. Das kann ein vorsichtiges Balancieren auf einem Seil sein oder ein gewagter Sprung in tiefes Wasser.
Auch Handlungen, die außerhalb des eigenen Handlungsspielraums liegen, Handlungen im weitesten Sinn des Wortes, gehören zu dem Feld der Handlungen, die beim Elementaren Musizieren zur Musik werden können. Handlungsverläufe der Natur, Handlungen oder sogar Bauten der technischen Umwelt oder geschaffene Kunstwerke lassen sich als Handlungen nachvollziehen, können musikalisch interpretiert werden: das Wachsen einer Blume, der Sonnenaufgang, die an- und abfahrende U-Bahn, das nahe oder ferne Flugzeug, ein Brückenbogen, ein Bild von Wassily Kandinsky, eine Skulptur von Henry Moore, ein Gedicht von Rainer Maria Rilke.
Es ist vor allem die Bewegungsqualität, die in allen Handlungen steckt, die zum Klang und zur Musik führen kann. Jede Handlung lässt sich körperlich nachvollziehen, es lassen sich mögliche Klangqualitäten aufspüren. Differenzierte körperliche Wahrnehmungen veranlassen eine Klangsuche und führen zu klanglichem Ausdruck.

1 Ruth Cohn: Von der Psychoanalyse zur themenzent­rierten Interaktion, Stuttgart 1975, S. 160 ff.
2 vgl. Olaf-Axel Burow: Die Individualisierungsfalle. Kreativität gibt es nur im Plural, Stuttgart 1999.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2010.