Loskill, Jörg

Von Vivaldi lernen

Ida Bieler startet in Düsseldorf das Vivaldi-Projekt für mittellose Kinder als Kooperation von Hochschule und Musikschule

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 6/2010 , Seite 42

Er war ein ungemein fleißiger und vielseitiger Musicus, dieser Venezianer Antonio Vivaldi (1678-1741). Der „il prete rosso“ (rothaariger Priester) genannte Zeitgenosse von Marcello, Geminiani, Corelli oder Albinoni wirkte zunächst in seiner Heimatstadt als Violinlehrer, Geistlicher und Komponist, ehe er eine Kapellmeister- und Geigen-Stelle am Hof von Mantua annahm. Ab 1725 wurde Vivaldi Impresario am Teatro San Angelo in Venedig: 16 Opern sind äußerliches Zeichen für die lebhafte und intensive Auseinandersetzung mit diesem damals noch relativ neuen, aber sofort publikumswirksamen Genre.
Doch der erfolgreiche Maestro, der als Pionier der Solokonzerte in die Musikgeschichte einging und mit den Vier Jahreszeiten eines der bis heute weltweit populärsten Stücke schrieb, zeigte noch eine andere Seite. Als er am venezianischen „Ospedale della Pietà“, einem Waisenhaus und Mädchenkonservatorium, als Musikdozent arbeitete, sorgte er für eine pädagogische Sensation: Er richtete ein Orchester für die Kinder und Jugendlichen ein und trat mit diesem Ensemble öffentlich auf. Außerdem unterrichtete er die fast immer mittellosen Mädchen kostenlos und erzielte schon früh Erfolge. Die Musik erwies sich als Zukunftsweg aus der unverschuldeten privaten Misere. Vivaldi gilt deshalb vielen noch heute als Vorbild im Einsatz für Laien und Jugendliche.
So denkt auch Professorin Ida Bieler von der Robert Schumann Hochschule in Düsseldorf. Die international geschätzte Geigerin kam über die Einstudierung von Vivaldis Kompositionen auf die Biografie des Künstlers. Das Engagement als Dozent im Ospedale imponierte ihr besonders: „Dieses Thema wollte ich auf die heutigen Bedingungen unserer Gesellschaft anwenden.“ Ida Bieler suchte Mitstreiterinnen und fand sie in den Dozentinnen Nathalie Streichardt und Catherine Shepheard, tätig in der Fachdidaktik für Hohe Streicher an der Robert Schumann Hochschule.
Das Trio verhandelte mit verschiedenen Partnern und wurde schließlich fündig bei der Stadt Düsseldorf und bei der Clara-Schumann-Musikschule Düsseldorf, die die entsprechenden Instrumente ausleiht. So konnte im November 2010 ein „Basis-Unternehmen“ für alle starten: das „Vivaldi-Projekt“. Ida Bieler: „Auch in einer eigentlich gut situierten Stadt wie Düsseldorf gibt es viele Eltern und Kinder, die niemals die Chance haben oder hätten, selbst ein Instrument zu spielen und in die weite Welt der Musik aus eigenem Antrieb vorzustoßen. Dafür steht jetzt unser Vivaldi-Projekt.“
Zusammen mit einigen StudentInnen ihrer Hochschulklassen gehen die drei Geigen- und Didaktik-Expertinnen in zwei benachbarte Jugendzentren, um dort musikliebende und musikinteressierte Kinder im Alter zwischen vier und sieben Jahren mit dem Geigenspiel vertraut zu machen. Es sei ein Abenteuer mit offenem Ausgang, umschreiben die jungen Hochschulkräfte diese beispielhafte Initiative. Es geht Ida Bieler nicht darum, geeigneten Nachwuchs für Solistenkarrieren zu drillen. Ziel des Vivaldi-Projekts sei vielmehr, ­generell Interesse an der Musik, an der Kommunikation über Musik und an der musikalischen Klassik zu wecken. Und es könne nicht schaden, meint das Trio, dass alle drei Päda­goginnen noch im „jugendlichen Alter“ sind. Man spreche die Sprache der Kinder und könne sie für die Musik durch eine unproblematische, aber gezielte Ansprache von ihrer Seite aus begeistern.
Das Projekt für die sozial benachteiligten Familien ist zunächst auf vier Semes­ter angelegt. In das Gesamtprogramm werden so genannte Improvisationsworkshops eingebettet, in denen neben den jungen Leuten auch deren Eltern mitarbeiten sollen. Nathalie Streichardt: „Unser Projekt ist keine Einbahnstraße, sondern für das private und soziale Umfeld der Kinder offen. Wir wollen mit unserer Arbeit Herzen und Verständnis für die Musik öffnen.“
Ida Bieler hält noch einen weiteren Trumpf in der Hand, wenn sie (die selbst mit drei Jahren das Geigenspiel aufgrund der Förderung durch ihre Eltern erlernte) an die Zukunft des Vivaldi-Konzepts denkt: Nach diesen zwei Jahren können die geeigneten Kinder aus diesem Programm an der Clara-Schumann-Musikschule weiter kostenlos Geigenunterricht nehmen. Das würde bedeuten, dass jungen Menschen über die Musik „eine echte Perspektive“ angeboten werde.
So dachte auch vor über 300 Jahren schon „il prete rosso“, der am Ospedale della Pietà als hausinterner, aber bald regional verehrter „Maestro de’ concerti“ selbstlos Kinder und Jugendliche förderte. Musik als Schule des Lebens – das Düsseldorfer Projekt lädt zur Nachahmung in Städten ein, die ebenfalls über Musik(hoch)schulen mit entsprechendem Personal verfügen. Das erste Orchesterstück, das bei diesem Projekt später einmal einstudiert werden könnte, müsste eigentlich Vivaldis Konzertfolge Die vier Jahreszeiten sein…

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