Bossen, Anja

Vorbildlich prekär

Leistungs- und Qualitätsentwicklungsbericht zur Entwicklung der Berliner Musikschulen

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 3/2015 , musikschule )) DIREKT, Seite 04

Im Dezember 2014 wurde von der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft der zweite Leistungs- und Qualitätsentwicklungsbericht zur Entwicklung der Musikschulen veröffentlicht. Damit wurde die Forderung des Berliner Schulgesetzes erfüllt, mindestens alle fünf Jahre einen solchen Bericht vorzulegen. Umfasste der erste Bericht den Zeitraum 2002 bis 2006, bezieht sich der nun vorliegende Bericht auf die Jahre 2007 bis 2011. Der Bericht setzt sich differenziert mit relevanten Bereichen der Musikschularbeit, vor allem aber mit den wirtschaftlichen Fakten und Rahmen­bedingungen der Musikschularbeit auseinander. Doch was unter „Leistung“ und „Qualität“ nun eigentlich zu verstehen ist, bleibt überwiegend im Nebulösen.

Leistung und Qualität

Offenbar geht es um eine ausschließlich ökonomisch orientierte Definition des Leis­tungs- und Qualitätsbegriffs. Demnach ist eine „gute“ Qualität dann erreicht, wenn mit möglichst wenig finanziellem Aufwand möglichst viele SchülerInnen unterrichtet werden. Unter „Leistung“ werden Unterrichtsleistung (Stundenzahl), Versorgungsgrad der Bevölkerung, Breitenwirkung und Kostendeckungsgrad verstanden. „Leistung“ ist nach dieser Auffassung also vor allem das, was sich in Quantität ausdrückt, und zielt auf ein möglichst billiges Betreibermodell von Musikschule.
Auch der Begriff „Qualität“ wird als eine Bündelung ausschließlich quantitativ mess­barer Faktoren definiert. Unter „Qualität“ werden die Anwendung von QsM und die Orientierung am Lehrplan des VdM verstanden. Nicht beachtet wird dabei allerdings, dass die Musikschulen sich zwar an den Richtlinien des VdM orientieren sollen, allerdings offenbar nur, solange dies kostenneutral ist. Laut VdM-Richtlinien sollen nämlich mindestens 70% der Lehrkräfte festangestellt sein. Von dieser Situation ist Berlin mit über 90% Honorarkräften weit entfernt. Festgestellt wird dann auch, dass aufgrund der geringen Größe des „tatsächlich angestellten Personalkörpers“ QsM seit 2009 nur noch in sehr eingeschränkter Form durchgeführt werden konnte. Eine Änderung daran soll nicht etwa durch eine Aufstockung des „tatsächlich angestellten Personalkörpers“ erfolgen, sondern durch eine Reduktion des Systems erreicht werden.

Lehrkräfte als ­Produktionsmaschinen

Was für ein Menschenbild nach wie vor gegenüber den Musikschullehrkräften seitens der Verwaltung herrscht, lässt sich im Übrigen an der im Bericht ausdrücklich hervorgehobenen Feststellung ablesen, dass die Arbeit mit einem dermaßen hohen Anteil an Honorarkräften keinerlei messbare negative Auswirkungen auf die Unterrichtserteilung und -qualität habe. Ganz im Gegenteil wird als besonders positiv hervorgehoben, dass eine bei Festanstellungen gegebene Kapazitätsobergrenze bei den Unterrichtsdeputaten durch die freien Lehrkräfte nicht gegeben sei und mit Honorarkräften mehr Flexibilität gegenüber Nachfrageschwankungen bestehe. Auch für die Verwendung von Honorarkräften in Kooperationen gebe es juristisch keine Hinderungsgründe.
Die Senatsverwaltung scheint also mit dem hohen Anteil der Honorarkräfte sowie deren pädagogischer Arbeit äußerst zufrieden zu sein – warum also sollte sie sich bewegen, solange die Lehrkräfte das produzieren, was sie sollen? Dass die Lehrkräfte nicht nur Produktionsmaschinen von Produkten und Kennziffern, sondern Menschen sind, die von ihrer Tätigkeit leben müssen, interessiert natürlich in einem ökonomiebasierten Bericht nicht.

Weiter so!?

Offenbar ist die Berliner Senatsverwaltung mit den Leistungen und der Qualität ihrer Musikschulen im Großen und Ganzen recht zufrieden, auch wenn der Bericht ausdrücklich aufführt, dass
– das Qualitätssicherungssystem QsM aufgrund mangelnder personeller Ausstattung mit festangestellten Lehrkräften nicht umgesetzt werden kann,
– dringend mehr Verwaltungsstellen geschaffen werden müssten, da ein immer höherer Anteil an Honorarkräften sowie an Kooperationen erheblich mehr Verwaltungsaufwand bedeuten,
– bildungsferne Schichten nicht in gewünschtem Umfang erreicht werden,
– der angestrebte Großgruppenunterricht an den zur Verfügung stehenden Lehrkräften und Rahmenbedingungen in der Kooperation mit Schulen scheitert,
– Kooperationen aufgrund der finanziellen Ausstattung und der Rahmenbedingungen stagnieren,
– kaum noch Stellen mit einer stellvertretenden Musikschulleitertätigkeit besetzt sind,
– Wartelisten nicht abgebaut werden können,
– Geräte und Ausstattungen nur punktuell erneuert werden können,
– ein gravierender Mangel an Unterrichtsräumen besteht, sodass viele Lehrkräfte in ihren Privaträumen unterrichten müssen, und
– Fortbildungen nicht den gewünschten, nachhaltigen Erfolg zeigen.
Leider begnügt sich der Bericht überwiegend mit der Darstellung von Tatsachen in Gestalt von Kennziffern und Produkten und verzichtet vollständig auf eine Analyse, warum bestimmte Ziele nicht oder nicht in gewünschtem Umfang erreicht wurden. Dies ist zwar nicht unbedingt Aufgabe eines Berichts, doch werden dort auch einige Handlungsempfehlungen ausgesprochen. Doch ohne Analyse der Bedingungen, unter denen die Fakten entstanden sind, ist ein Erfolg von Handlungsempfehlungen kaum vorstellbar.
Für erfolgreiche Handlungsempfehlungen bedürfte es vielmehr einer tieferen Ursachenanalyse: Warum wollen die Lehrkräfte keine 25er-Gruppen unterrichten, selbst wenn sie den Lehrgang „Gruppenleitungskompetenz“ an der Landesmusikakademie absolviert haben? Könnte das etwas mit einem bestimmten Berufsbild und Vorstellungen von musikalischer Bildung zu tun haben? Ist die Bezahlung für das Unterrichten von 25er-Gruppen, das mit einer deutlich höheren Belastung und Vorbe­reitung verbunden ist als der Einzel- oder Kleingruppenunterricht, nicht attraktiv ­genug?
Wie sollen mehr Lehrkräfte für Kooperationen gewonnen werden, wenn man nur die Rahmenbedingungen für die Schüler, nicht aber für die Lehrkräfte verbessert? Warum ist die Nachfrage nach Einzelunter­richt hoch, während die Nachfrage nach Gruppenunterricht trotz eines wesentlich günstigeren Entgelts hinter den Erwartungen der Senatsverwaltung zurückbleibt? Könnte das etwas mit den Qualitäts­ansprüchen der Eltern zu tun haben? Wün­schen diese vielleicht eher eine individuelle Betreuung ihrer Kinder und würde eine stärkere Bewerbung von Gruppenunterricht daran etwas ändern? Warum nutzen in einigen Bezirken mehr Menschen das Musikschulangebot als in anderen? Könnte das etwas mit der Sozialstruktur und dem sozialen Habitus zu tun haben? Wie könnte man Menschen aus bildungsfernen Schichten einbeziehen, wel­che Maßnahmen wären dazu erforderlich? Reicht es, lediglich die Entgelte zu senken?

Wichtige Erkenntnisse – zu spät…

Es ist gut, dass es den Bericht gibt, denn er zeichnet ein übersichtlich strukturiertes Bild der Berliner Musikschularbeit. Positiv ist auch zu vermerken, dass aus dem Bericht deutlich hervorgeht, dass musikalische Bildung sich nicht allein über Projekte ereignen kann, sondern der Kontinuität bedarf. Diese essenzielle Erkenntnis hat es mittlerweile also auch in das Verwaltungsdenken hinein geschafft. Doch hinkt der Bericht den Fakten mindestens drei Jahre hinterher, denn erst 2014 wurden überhaupt Schlussfolgerungen aus dem Stand der Jahre 2007 bis 2011 abgeleitet.
Davon abgesehen wird der Bericht zu einer wirklichen Qualitätsentwicklung nur beitragen, wenn die Fakten sorgfältiger auf ihre Ursache hin überprüft werden und anschließend daraus nicht nur die Handlungsempfehlungen umgesetzt werden, die vor allem eines zum Ziel haben: auf keinen Fall mehr Geld in die strukturellen Defizite der Musikschulen zu investieren. Und dazu gehört auch, endlich die menschenverachtende Behandlung der Lehrkräfte zu beenden, die ihren vorläufigen Höhepunkt im Jahr 2013 mit einer massiven Verschlechterung der Honorarverträge zu verzeichnen hat. Doch was genau in jenem Jahr geschah und wie sich dieser Umstand auf die Qualität der Musikschul­arbeit ausgewirkt hat, erfahren wir dann im nächsten Bericht – im Jahr 2018…