Hindemith, Paul

Vorschläge für den Aufbau des türkischen Musiklebens

Die originalen Reporte 1935/1936/1937, mit einer Einleitung von Elif Damla Yavuz

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Staccato, Düsseldorf 2013
erschienen in: üben & musizieren 6/2013 , Seite 53

Nach dem Willen von Staatsgründer Kemal Atatürk sollte die 1923 gegründete Türkei ein west­lich geprägtes Land werden: Die Verfassung sah die Trennung von Staat und Religion vor, die Gesetzgebung war an europäischen Vorbildern orientiert, das Hirtendorf Ankara wurde nach Plänen deutscher Architekten zur neuen Hauptstadt des Landes ausgebaut.
Auch das Musikleben sollte nach europäischen Maßstäben ent­wickelt werden. Paul Hindemith, dem man Anfang 1935 diese Aufgabe anbot, sagte gerne zu: Er hatte sich schon seit Längerem mit musikpädagogischen Fragen befasst und war nach den Ende 1934 eskalierten Auseinandersetzungen um sein Werk und seine Person froh, Nazi-Deutschland für eine Weile verlassen zu können.
Die Ergebnisse seiner Arbeit während vier mehrwöchigen Türkei-Aufenthalten zwischen 1935 und 1937 fasste er in drei umfangreichen Berichten zusammen. Es ist das Verdienst der türkischen Musikwissenschaftlerin Elif Damla Yavuz und des Staccato-Verlags Düsseldorf, dass sie nun in einer faksimilierten Ausgabe vorliegen.
Hindemith war das Problem der „Europäisierung“ bewusst, das mit einer von westlichen Kräften geleiteten Reform einherging. Deshalb plädierte er einerseits für eine europäisch orientierte Musiker- und Musiklehrerausbildung, für die Einbindung von europäischen Musikern und Dirigenten in den Orchestern, für die Etablierung von Konzertreihen mit sinfonischer Musik und für den Neubau eines Opernhauses in Ankara. Andererseits war er davon überzeugt, dass nur die Volksmusik eines Landes die Basis für lebendige musikalische Kultur sein könne. Als wichtigsten Ort für die Pflege dieser Volksmusik betrachtete er den Musikunterricht an den Schulen. Die neue, anspruchsvolle türkische Kunstmusik sollte sich in der Verbindung von europäischem „Formen- und Harmonievorrat mit den äußerlichen Mitteln der türkischen bäurischen Volksmusik, Melodien und Rhythmen“ herausbilden.
Hindemith begutachtete den Inst­rumentenbestand des Konservatoriums und des Sinfonieorchesters, gab Anweisungen für notwendige Reparaturen und Neuanschaffungen und entwickelte Pläne für die kontinuier­liche Wartung. Er formulierte Lehrpläne für Militärmusiker, ent­wickelte ein didaktisches Konzept für ein „Chorliederbuch“ und entwarf eine Satzung für das künftige Konservatorium in Ankara, die als Meilenstein in der Geschichte dieser Bildungsstätte gelten kann. Er erstellte Lehrpläne für den Unterricht und machte konkrete Vorschläge zur personellen Besetzung der Stellen. Sein letzter Bericht (1937) verdeutlicht zwar seine Unzufriedenheit mit den zögerlichen Entwicklungen auf vielen Gebieten, aber auch sein unvermindertes Engagement für die Sache. So hat er markante Spuren im türkischen Musikleben hinterlassen, die bis heute nicht verwischt sind.
Susanne Schaal-Gotthardt