Mantel, Gerhard

Wann fließt es denn?

Eine kritische Auseinander­setzung mit dem Konzept des „Flow“

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2011 , Seite 14

Das von dem amerikanischen Psy­chologen Mihály Csíkszentmihályi erarbeitete “Flow”-Konzept hat als Chiffre für beglückendes Musi­zie­ren Eingang auch in die Instrumental­pädagogik ge­funden. Doch was hat es auf sich mit dem scheinbar anstrengungs­losen, fließenden Üben, das angeblich wie von selbst entsteht? “Kein Glück ohne An­stren­gung”, warnt Gerhard Mantel vor übertriebenen Erwar­tungen an die Segnungen des Flow.

Vor 20 Jahren schenkte mir nach einem Konzert an einer amerikanischen Universität eine Kollegin ein Buch mit einer lieben Widmung: „To my esteemed colleague and friend Gerhard, who is the living example of ,Flow‘.“ Das Buch trug den Titel Flow, the psychology of optimal experience, der Autor den schwer auszusprechenden Namen Mihály Csíkszentmihályi. (Der Titel der 1996 erschienenen deutschen Übersetzung hat es dann bis zur reichlich ambitionierten Formulierung Flow. Das Geheimnis des Glücks gebracht.)
Man kann das Buch in der Nähe der besonders in den USA populären Sorte der „How-to-books“ sehen, in denen einfache Lebensregeln zur Verfügung gestellt werden für ein glückliches, gesundes und erfolgreiches Leben. Csíkszentmihályi nennt den Zustand der Befriedigung bei einer die ganze Aufmerksamkeit vollkommen absorbierenden Beschäftigung „Flow“. Jeder kennt diesen beglückenden Zustand, in dem wir in einer Tätigkeit mit voller Hingabe aufgehen, in der uns einfach alles scheinbar mühelos gelingt. Csíkszentmihályi spricht davon, dass man ihn bei jeder denkbaren, auch anscheinend völlig nutzlosen Tätigkeit erleben kann, auch beim Spazierengehen, beim Ochsenschlachten (!) wie beim Musikhören.

Paradigmenwechsel?

Der Begriff „Flow“ hat in letzter Zeit auch in die Instrumentalpädagogik Einzug gehalten. Andreas Burzik veröffentlichte im Februar 2009 in der Zeitschrift das Orches­ter einen Artikel über Flow und sprach in diesem Zusammenhang von einem Paradigmenwechsel.1 Ich vermute, dass der eine oder andere dem zustimmen wird; ich kann darin allerdings nichts Neues entdecken. Der beschworene Paradigmenwechsel ist allenfalls semantischer Natur, denn Flow, auch unter anderer begrifflicher Verpackung (z. B. Lockerheit, Natürlichkeit, Gelöstheit oder der Vorstellung, dass „es spielt“), ist ein Ziel, das sich jeder Instrumentalist vernünftigerweise setzt und eigentlich immer schon gesetzt hat. „Es spielt“ ist eine Chiffre, die ich schon seit meiner Kindheit kenne. Eugen Herrigels Buch Zen in der Kunst des Bogenschießens (1936) zielt in die gleiche Richtung.
Wir sind uns ja alle darüber einig, dass ein freies, souveränes, „lockeres“, „fließendes“ Instrumentalspiel besser ist als ein verkrampftes, nur pflichtbefolgendes, fehlervermeidendes, womöglich angstbesetztes. Und fest steht auch, dass es für gutes Üben wichtig ist, sich in einen für die Arbeit förderlichen Zustand zu versetzen. Hier eröffnet sich das weite Feld erfolgreicher Körpertechniken. Auch die äußerlichen Bedingungen bis hin zu Licht, Schlaf und Ernährung müssen stimmen. Allerdings, um ein antikes Sprichwort zu bemühen: „Vor die Tugend haben die Götter den Schweiß gesetzt.“ Vor dem Glücksgefühl des Flow liegt das Studium, liegt die eigentliche Arbeit: Anstrengung, Begeisterung, Enttäuschung, gelungene und misslungene Experimente, Fehler und deren Auflösung, die Aneignung wirksamer und die Verwerfung unwirksamer Methoden, die Analyse (nen­nen wir sie „Beschreibung“) von Werken, von Prozessen, von Bewegungen, Entdeckung neuer Klangvorstellungen, Bewusstseinsaufbau, Erfolge, eben – Wachstum, Entwicklung.
Paradigmenwechsel? Selbst Csíkszentmihályi spricht von Erfordernissen wie „concent­ration“, „training“, „effort“ (!), „memory“, „skills“ – Fähigkeiten, die natürlich zuerst einmal entwickelt und eingesetzt werden müssen! Er weist auch ausdrücklich darauf hin, dass Flow nicht willkürlich erzeugt werden kann, sondern von den genannten Bedingungen, vor allem den erlernten „skills“ abhängig ist. Insofern bezeichnet Csíkszentmihályi seinen Begriff Flow auch nicht als Methode zum Erwerb von skills, sondern als einen mit Hilfe der erworbenen skills anzustrebenden Zustand. Es läuft darauf hinaus, wie er sagt, „to enjoy your work“.
Wenn wir schon von einem Paradigmenwechsel sprechen: Er findet auf einem ganz anderen Gebiet statt. Es handelt sich um das Prinzip der Kybernetik, der Vernetzung und Rückkopplung. Das ist das Gebiet, auf dem wirklich neue Einsichten und Fortschritte beim Inst­ru­mentalspiel wie in der Instrumentalpädagogik zu suchen und zu erwarten sind: Querverbindungen, Vergleichsstrategien innerhalb des Körpers mit seinen vernetzten Funktionen und Bewegungen, Querverbindungen auch zwischen emotionalen, sprachlichen, sportlichen, assoziativen Kategorien. Untersuchung biografischer, situativer Bedingungen des Lernens, systemische Fragen der Kommunikation in der Pädagogik und ihre Wirkung auf das individuelle Selbstkonzept des Lernenden, implizites Lernen – das sind die neuen Aufgaben, die einen Paradigmenwechsel darstellen können und die zu untersuchen es sich lohnt!


1 Andreas Burzik: „Die Kunst des Entstehenlassens. ­Lernen und Lehren nach Prinzipien der Selbstorganisa­tion“, in: das Orchester 2/2009, S. 22-23.


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