Figdor, Helmuth
Warum habe ich Lampenfieber?
Ein psychoanalytischer Beitrag zum besseren Verständnis der eigenen Gefühle
Ja, warum habe ich eigentlich Lampenfieber? Ich bin perfekt vorbereitet, und dennoch diese beständige Nervosität, die sich mitunter zur veritablen Auftrittsangst steigert. Eine psychoanalytische Spurensuche auf Grundlage einer Veranstaltung zu „Angewandter Psychologie“ am Institut für musikpädagogische Forschung und Praxis der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien…
Im Gespräch mit den Studierenden taucht schnell die Frage auf, von welchem Lampenfieber die Rede sein soll. „Ein gewisses Maß“ an Lampenfieber (Spannung, Erregung) sei notwendig, um wirklich gut zu spielen oder zu singen. „Es darf nur nicht zu viel sein!“ Wir einigen uns darauf, mit jenem „Lampenfieber“ zu beginnen, das stört, uns schwitzen, zittern lässt, Übelkeit und andere quälende Zustände hervorruft. Manchmal verschwinden sie mit dem Einsatz des Spielens bzw. Singens, manchmal halten sie jedoch an, trüben die Qualität des Auftritts oder erhöhen die Gefahr von Fehlern oder Aussetzern. Ob der Unterschied zwischen „bösem“ und „gutem“ Lampenfieber – das weniger aus Angst als aus freudiger Erwartung zu bestehen scheint und jene produktive Spannung erzeugt, die es für eine gelungene künstlerische Leistung braucht – tatsächlich nur ein quantitativer ist, lassen wir einmal dahingestellt.
1. Welche Umstände lösen Lampenfieber aus, welche eher nicht?
Im Folgenden einige Versuche der Studierenden zu erkennen, welche Umstände und Situationen Lampenfieber auslösen, welche nicht – oder zumindest nicht so stark.
1. Je besser ich vorbereitet bin, desto geringer die Gefahr, Fehler zu machen, desto geringer daher mein Lampenfieber.
Das klingt plausibel, aber lässt es sich verallgemeinern? Quält uns die Nervosität nicht oft auch dann, wenn wir gut vorbereitet sind? Einige Studierende erzählen, dass sie an sich beobachtet haben, dass es mitunter sogar ein Zuviel an Vorbereiten und Üben gibt, was die Nervosität anwachsen lässt, ja dass es durchaus hilfreich sein kann, sich mit guten erfreulichen Gedanken abzulenken. Jedenfalls scheint es keine lineare Beziehung zwischen Vorbereitung und Lampenfieber zu geben. (Wenn sich ein Musiker vor der Aufführung fürchtet, weil er das Stück noch nicht beherrscht, ist das ja kein „Lampenfieber“.)
2. Je größer die Routine, desto geringer das Lampenfieber.
Ein naheliegender Zusammenhang. Allerdings klagen einige der Studierenden, dass sie immer schon unter Lampenfieber gelitten haben und sich dies mit zunehmender Routine gar nicht geändert habe. Würde dieser Zusammenhang allgemein gelten, dürften erfahrene BerufsmusikerInnen eigentlich nicht mehr unter Auftrittsängsten leiden, was – wie wir wissen – nicht stimmt.
3. Es kommt auf die Art des Publikums an: je fremder, desto größer das Lampenfieber, je vertrauter, desto geringer.
Andere hingegen erzählen, dass sie besonders nervös sind, wenn sie vor KollegInnen, Freunden oder Familienangehörigen spielen. Eine Studentin meinte sogar, sie spiele lieber vor einer Prüfungskommission als vor der eigenen Familie.
4. Es kommt auf die Größe des Publikums an: je intimer der Rahmen, desto weniger Lampenfieber verspüre ich.
Bei vielen ist es gerade umgekehrt: Die Anonymität des Publikums in einem großen, vollen, vielleicht sogar abgedunkelten Raum nimmt ihnen Angst.
5. Es kommt auf die Art des Auftritts an: ein Solo-Auftritt ist besonders stressig, im Chor oder Ensemble ist es viel besser.
Auch hier drifteten die Erfahrungen der Studierenden auseinander. Einige finden gerade Ensemble- und Orchesterauftritte besonders stressig, weil sie sich den KollegInnen gegenüber verantwortlich fühlen und deren Enttäuschung oder Kritik fürchten.
6. Bei klassischen Stücken, das heißt bei vorgegebenem Notentext, bin ich besonders nervös; mit dem Jazz-Ensemble und den Möglichkeiten zu improvisieren habe ich kaum Lampenfieber.
Auch dieser Aussage eines Studenten wird prompt widersprochen: „Ich beneide die Klassiker um ihre vorgegebenen Notentexte, während wir beim Improvisieren gezwungen sind, dauernd unsere Besonderheit und Kreativität unter Beweis zu stellen.“
7. Es kommt darauf an, ob ich mit meinem ersten Instrument auftrete oder mit meinem zweiten. Auf dem ersten bin ich sicherer und habe daher auch weniger Lampenfieber.
Andere wiederum können mit ihrem zweiten Instrument lockerer spielen, weil es ihnen nicht so wichtig ist wie das erste.
8. Es kommt auf das Stück bzw. auf das Programm an: Es gibt Stücke, die mir so nah, so vertraut sind, dass alles, was stressen könnte, rundherum versinkt (Flow).
Dagegen: Gerade bei Lieblingsstücken, bei Stücken, an denen mir besonders viel liegt, ist das Lampenfieber am größten.
9. Je besser mein seelischer Zustand, meine Stimmung ist, desto geringer mein Lampenfieber.
Auch hier finden wir gegenteilige Erfahrungen: Eine Studentin erzählt, dass sie in großer Trauer um ihre kürzlich verstorbene Oma das Publikum völlig vergaß und nur für die Oma spielte. Sie hätte sich noch nie mit ihrer Musik so verbunden gefühlt und – für sie völlig überraschend – noch nie solchen Beifall erhalten. Ein Student erzählt, dass ihm sein Konzert angesichts einer familiären Krise völlig egal war, und er einfach drauflos spielte – mit Riesenerfolg…
10. Das Lampenfieber ist besonders groß bei Prüfungen, Wettbewerben oder beim Vorspiel für Engagements und Orchesterstellen.
Diesem Auslöser heftigen Lampenfiebers stimmten alle Studierenden zu. Allein, der Konsens täuscht. Denn bei näherem Nachfragen stellt sich heraus, dass das „Lampenfieber“ vor Prüfungen, bei Wettbewerben, im Zuge der Bewerbung für ein Engagement oder eine Orchesterstelle von lediglich gesteigerter Nervosität bis zu regelrechten Panikattacken reichen kann.
2. Herkömmliche Strategien gegen quälendes Lampenfieber
Anscheinend sind also die Faktoren, die Lampenfieber auslösen, verstärken oder mindern, ganz individuell. Das hieße aber auch, dass sich aus diesen Erfahrungen keine verallgemeinerbare Erklärung ableiten lässt, was es mit dem Lampenfieber auf sich hat und woher es kommt. Ebenso wenig gäbe es daher eine verallgemeinerbare Strategie, die das Übel bei der Wurzel packt. So bliebe es in der Praxis jedem Künstler und jeder einzelnen Künstlerin überlassen, auf die eigene Person zugeschnittene Methoden zu entdecken, die helfen, mit dem Lampenfieber besser zurechtzukommen.
Da es sich bei Angst immer um einen inneren Spannungszustand handelt und Angst stets mit bestimmten physiologischen Erscheinungen (beschleunigter Herzschlag und Atem, Schwitzen, gesteigerte Darmfunktion usw.) einhergeht, verwundert es nicht, wenn vor allem versucht wird, dem Lampenfieber mit Entspannungsbemühungen zu begegnen: darauf achten, gut ausgeschlafen zu sein; sich genügend Zeit für alle körperlichen Bedürfnisse nehmen; sich mit Hilfe von Techniken wie Autogenem Training, Meditation, Atemübungen etc. oder durch Einnahme von Medikamenten beruhigen.
Für beinahe alle Studierenden gehören zudem Rituale zur bewährten emotionalen Vorbereitung auf einen Auftritt. Dabei besteht die Wirksamkeit offenbar nicht im besonderen Inhalt der ganz unterschiedlichen, individuellen Handlungen, sondern eben in deren rituellem Charakter, also der immer gleichbleibenden Wiederholung.
Mit den Ritualen sind wir nun aber einem ganz anderen Ansatz, Lampenfieber zu begegnen, auf der Spur. Fokussieren die Entspannungsstrategien die physiologische Seite der Angst, um sie durch Reduktion von Erregung zu bannen, fördern Rituale das Entstehen eines emotionalen Zustands, der sich dem Lampenfieber entgegenstellt. Denn in dem, das wir kennen, das gleichbleibt, das sich unverändert wiederholt, erleben wir Vertrautes. Vertrautes aber schafft Sicherheit, und Sicherheit ist ein emotionaler Antagonist von Angst.
Diese Eigenschaft von Ritualen ermutigt uns zu der Frage, ob es darüber hinaus noch weitere Möglichkeiten geben könnte, im Zuge eines Auftritts auf die Gefühle direkt Einfluss zu nehmen?
3. Können die Erkenntnisse der Psychoanalyse helfen?
Dass Lampenfieber nicht in erster Linie die Folge zu großer physiologischer Erregung ist, wie vielfach angenommen wird, bestätigen auch neuropsychologische Befunde, wonach zwischen bestimmten Erregungszuständen und den Gefühlen, die sie auslösen, kein eindeutiger Zusammenhang besteht. Ein und dasselbe Erregungsgeschehen kann etwa als Angst, als Getriebensein, aber auch als heftige Verliebtheit oder Angriffslust erlebt werden. Zwischen Erregung und Gefühl schiebt sich offenbar ein Drittes: eine unbewusste Bewertung meines körperlichen Zustands, die dazu führt, dass ich den Impuls fühle wegzulaufen, jemanden zu schlagen, dem Geliebten um den Hals zu fallen oder mich mit Begeisterung daran mache, den Saal zum Rocken zu bringen. Sich lediglich darauf zu konzentrieren, das Erregungslevel zu senken, könnte also unter Umständen dem künstlerischen Akt wesentliche Affektbeträge, also Energien entziehen.
Wovon hängen nun aber diese so unterschiedlichen „Interpretationen“ meiner Erregung vor einem Auftritt ab? Die bewussten Antworten der Studierenden helfen uns nicht weiter, denn andere, die sich in der gleichen oder ähnlichen objektiven Situation befinden, erleben diese subjektiv völlig anders. Lampenfieber ist mithin kein hinlänglich rational begründetes Gefühl. Anders gesagt: Lampenfieber ist größtenteils das Ergebnis unbewusster Seelenvorgänge. Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, den Studierenden etwas über eine der wichtigsten Erkenntnisse der Psychoanalyse zu erzählen: über jenen unbewussten Vorgang, den Sigmund Freud als „Übertragung“ bezeichnete.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2025.