Richter, Thomas
Warum man im Auto nicht Wagner hören sollte
Musik und Gehirn
Der Autor hat sich ein hohes Ziel gesetzt. Auf 200 Seiten werden sowohl die Hirnphysiologie der Musikwahrnehmung und des Musizierens wie auch die Wirkungen von Musik in allen Lebensbereichen, gewissermaßen von der Wiege bis zur Bahre (das vorletzte Kapitel ist tatsächlich mit „Morendo“, das letzte mit „Musik der Zukunft“ überschrieben) abgehandelt. Für einen neurophysiologisch und musikpsychologisch vorgebildeten Leser ist das Buch unterhaltsam zu lesen, viel Kluges steht darin und auch einiges Neue und Überraschende. Zum Beispiel war mir nicht bekannt, dass eine Hundeoper komponiert wurde, über den Komponisten schweigt sich der Autor freilich aus.
Und damit kommen wir schon zu den weniger befriedigenden Seiten des Buchs. Je weiter man sich zum Ende hin bewegt, umso geringer wird der Tiefgang. Es wird zu viel nur an der Oberfläche angekratzt und leider ist Einiges nur halbrichtig.
So ganz klar wurde mir nicht, an welche Zielgruppe sich der Autor richtet: Für ein Sachbuch ist es zu wenig systematisch, vor allem fehlen die Abbildungen, die das Lesen für einen neurobiologisch nicht vorgebildeten Leser erleichtert hätten. Für ein unterhaltsames Lesebuch wiederum ist es zu anspruchsvoll und setzt zu viel an Wissen voraus. Wer weiß schon, was „diakritische Zeichen“ sind? Ich vermute, der sehr kenntnisreiche, kultivierte und eher konservative Autor schreibt für die gebildeten, begeisterten MusikliebhaberInnen und AbonnentInnen klassischer Konzerte, für die der European Song Contest ein Gräuel ist.
Und damit kommen wir zu einem weiteren schwierigen Aspekt, nämlich dem ausgeprägten Kulturkonservatismus, der gegen Ende immer stärker durchscheint. Die Bemerkungen zu den Auswirkungen von Krankheiten der Komponisten auf ihre Werke spiegeln weitgehend überholte Klischees wieder. Dass Beethoven seine Taubheit in der fünften Symphonie einkomponiert habe oder der Bolero Ausdruck der beginnenden Demenz Ravels sei, wurde schon vor Langem widerlegt!
Dies ist das Verdienst der historischen Musikwissenschaften und des sorgfältigen Quellenstudiums. Insofern ist die Kritik und versteckte Entwertung dieser Disziplin auf Seite 178 unangemessen. Auch die implizite Ablehnung Neuer Musik scheint eher auf mangelnder Auseinandersetzung mit dieser Facette des Musiklebens zu beruhen.
Fazit: Ein sehr breit angelegtes und für vorgebildete, eher konservative LeserInnen unterhaltsames und kenntnisreiches Buch, bei dem nicht jeder Satz auf die Goldwaage gelegt werden sollte. Übrigens: Wenn ich den Autor recht verstanden habe, so darf man Wagner im Auto hören. Man sollte nur das Radio nicht zu laut stellen!
Eckart Altenmüller