Bullerdiek, Jörn / Christine Süßmuth

Warum Musik in unseren Genen liegt

Mit einem Vorwort von Dietrich Grönemeyer

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Springer, Heidelberg 2023
erschienen in: üben & musizieren 4/2024 , Seite 60

Wer ein Sachbuch schreibt, hat allerhand unter einen Hut zu bringen. Es muss sachlich zuverlässig sein, ohne fachwissenschaftlich zu überfordern. Es soll anregen und unterhalten, ohne Kenner zu langweilen oder Amateure jovial zu belehren. Denn wenn der Ton nicht stimmt, verstimmt es alsbald die LeserInnen. Es geht also um die Kunst, Kenner und Liebhaber gleichermaßen treffsicher anzusprechen.
Die AutorInnen der vorliegenden Publikation beherrschen diese Kunst. Christine Süßmuth ist Musikwissenschaftlerin mit viel praktischer Erfahrung als Sängerin – solistisch und im Ensemble –, Jörn Bullerdiek medizinischer Humangenetiker mit starker Neigung, über den Tellerrand seines Fachgebiets zu blicken. Beide zusammen laden uns – fast immer im Dialog miteinander – dazu ein, an einer Kunst-Kultur-Forschungsreise nach Neapel und Umgebung teilzunehmen. Da sind die beiden also und reden eine Woche lang miteinander – von Montag bis Sonntag. Sieben Tage, sieben Themen: Montag (Geschichten), Dienstag (Sinne), Mittwoch (Vererbung), Donnerstag (Tiere), Freitag (Geschmack), Samstag (Gefühle) Sonntag (Erhabenheit).
Einen Epilog gibt es auch. Dazu eine Reihe von veranschaulichenden Bildern zu den naturwissenschaftlichen Erklärungen sowie eine Tabelle zu Musikvideos mit Shortlinks. Stichwortverzeichnis und Glossar unterstützen jene, die tiefer in die Materie eintauchen möchten.
Alles zusammen bildet eine reizvolle Konzeption, die ein Beispiel für gute Didaktik in Sachen Musik abgibt. Wege zur Musikvermittlung in der Breite müssen immer wieder neu gesucht und ausprobiert werden. Nicht jeder spielt ein Instrument oder singt, aber viele Menschen mögen Musik und wollen oft auch wissen, warum das so ist. Ein Hinweis aus dem Montagskapitel umreißt, worum es im Abendland seit zweieinhalbtausend Jahren bei der sogenannten Macht der Musik geht: Ergreift sie unser Inneres, ohne dass wir dieses „ich weiß nicht wie und was“ erklären können oder hat die Rationalität sie nicht immer schon entzaubert?
In Neapel und auf den Inseln Süditaliens waren einst die gefährlich-verführerischen Sirenen unterwegs. Homers Odysseus und seine Mannen konnten ein Lied davon singen. Orpheus verzauberte mit seinem Gesang Bäume, Menschen und wilde Tiere. Natürlich sind die mythischen Geschichten Teil einer uns fremden Weltsicht, aber die Erfahrungen mit Musik sind immer noch die gleichen: nämlich als wundersame Metamorphosen, wenn Schallwellen im Ohr zu elektrischen Impulsen werden, im Gehirn schließlich als Töne, Klänge und Musik wahrgenommen und gefühlt zu werden.
Die beiden AutorInnen sind immer offen für ihre jeweiligen Perspektiven – menschliches Erlebnis versus Biologie und Evolu­tion –, doch zu einem Konsens kommt es nicht. Und das ist gut so. Für die Sache wie für die LeserInnen.
Kirsten Lindenau