Rittelmeyer, Christian

Warum und wozu ­ästhetische Bildung?

Über Transferwirkungen ­künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Athena, Oberhausen 2010
erschienen in: üben & musizieren 2/2011 , Seite 59

Es sind hochaktuelle bildungspolitische Fragen, die der emeritierte Professor für Erziehungswissenschaft in seinem kompakten wie kompetenten Büchlein angeht: Macht Musizieren Kinder intelligenter? Unterstützt gemeinsames Singen das kooperative Verhalten? Lehrt uns erst der Kunstunterricht das präzise Sehen? Stärkt Tanzen und Theaterspielen das Selbstvertrauen?
Das Buch verlangt konzent­rier­tes Lesen. Es geht um „Trans­ferforschung“, also um wissenschaftliche Untersuchungen, ob ästhetische Erziehung, z. B. Musikunterricht, sich positiv auf Denkfertigkeiten, auf Sozialverhalten und emotionale Kompetenzen auswirkt.
Zunächst werden die Problematik der Transferforschung und deren gesellschaftlichen Hintergründe dargestellt. Mit welchen Ängsten wird diese Forschung belegt, mit welchen Erwartungen überfrachtet? Kommt man mit Klavier zum 1,0-Abitur oder wird so die „Kunst in die Niederungen des Zweckmäßigen“ gezerrt? Hier besticht die Sachlichkeit und Ausgewogenheit der Darstellung.
Im folgenden Hauptteil werden dann die Untersuchungen zur Wirkung von Musikerziehung umfassend dargestellt und auch die hirnphysiologischen Grundlagen anschaulich erklärt. Dabei ist hervorzuheben, dass Rittelmeyer sich nicht nur mit internationaler Spitzenforschung auseinandersetzt, sondern auch zahlreiche kleinere, als Dissertationen veröffentlichte Studien referiert. Hier habe ich viel Neues gelernt. Zum Beispiel war mir die in Salzburg veröffentlichte Längsschnittstudie von Katar­zy­na Grebosz nicht bekannt, die eindrucksvoll zeigt, dass Schüler einer spezialisierten Musikschule gegenüber Schülern einer „normalen Schule“ nach einem Jahr höhere Kreativität und verbesserte Kontakt- und Umgangsfähigkeiten aufwiesen. Meisterhaft ist auch, wie Rittelmeyer mit dem Verdikt von Lutz Jäncke, die berühmte Längsschnittstudie von Hans Günther Bastian mit intensi­viertem Musikunterricht an Berliner Schulen sei unbrauchbar, umgeht, nämlich differenziert: Schwächen, aber auch Stärken dieser Studie werden benannt und plausibel begründet.
Im zweiten Hauptteil werden die Transferwirkungen des Kunstunterrichts, des Theaterspiels und des Tanzens untersucht. Dieser Teil fällt naturgemäß auf Grund der sehr viel dünneren Daten­lage kürzer aus, ist aber nicht weniger informativ. Ästhetische Erziehung kann zu besonderen biografischen Erlebnissen führen, die unauslöschbar im Gedächtnis zum emotionalen Reich­tum beitragen. Für mich war das mit 17 Jahren der Anblick der Ak­ropolis nach zwei Tagen im Hellas-Express: einer meiner intensivsten Gänsehautmomente!
Ein exzellentes kleines Buch, das fundiert, konzentriert und kritisch über den neuesten Stand der Forschungen zu den Wirkungen von Musik und von ästhetischer Erziehung aufklärt! Es gehört in jeden Bücherschrank von Pädagogen und Bildungspolitikern.
Eckart Altenmüller